Hans-Erdmann Schönbeck: Der 20. Juli – sein zweites Stalingrad

Ein bisschen Stalingrad steckt bis heute in ihm. Noch vor Jahren waren da ganze Geschossteile in seiner Schulter verborgen. Bis er sie herausoperieren und von einem Juwelier vergolden ließ, um sie dann seiner damaligen Frau zu schenken: "Nichts kommt näher von meinem Herzen", sagte er ihr. Nun sind da nur noch kleine Splitter in Hans-Erdmann Schönbecks Schulter. Manchmal schmerzen sie und reißen ihn aus dem Schlaf. Dann versucht er, nicht an das Gestern zu denken.
Doch oft lässt ihn die Vergangenheit nicht schlafen, bis heute nicht. Dann hilft ihm der Himmel über München. Er schaut aus seinem Fenster und sieht in die Nacht und in die Weite. Hinauf zum Mond. Der Mond tröstet ihn, wenn er in sein Schlafzimmer hineinscheint und es mit seinem Licht ausfüllt.
Hans-Erdmann Schönbeck liebt den Mond. Er leuchtet für ihn wie damals in Stalingrad. Als die Welt im Krieg um ihn herum brannte, war der Mond für ihn der letzte Frieden. Als er gefangen war im Kessel von Stalingrad, schaute er zu ihm hinauf. Und fühlte sich einen Wimpernschlag lang frei. Dann war er nicht verloren.
Die Kameraden, wie sie schreien, flehen, weinen
Er träumte sich heimwärts. Mit drei Sätzen, die ihm noch heute die Tränen in die Augen treiben, obwohl ihn doch seit Stalingrad nicht mehr viel erschüttern kann. Er sagte sich damals immer: "Das ist nun derselbe Mond, wie ihn meine Eltern und meine Schwester daheim sehen. Er scheint genauso in Deutschland wie hier. Er ist meine Brücke zur Heimat."
Hans-Erdmann Schönbeck ist im Jahr 2016 ganze 94 Jahre alt und lebt hoch über München im elften Stock einer Luxus-Seniorenresidenz des Augustinums. Er bewohnt ein großes Appartement mit breiter bodentiefer Fensterfront und einer Loggia mit Postkartenblick auf die Alpenkette.
Er sitzt im Sessel seines Wohnzimmers und will beginnen zu erzählen, als am Himmel, der so weit und blau und friedlich vor seinem Fenster liegt, ein Flugzeug vorbeifliegt. Schönbeck verstummt, schaut zur Maschine und dem langen Silberstreifen, den sie hinter sich her zieht. Er schweigt, deutet zum Streifen, der sich langsam aufzulösen beginnt. Und der ihn jetzt mit einem Schlag sieben Jahrzehnte in seine Vergangenheit versetzt: Er denkt an jene Flugzeuge, die ihn und die letzten Männer aus Stalingrad retten sollten. Doch für 240 000 von insgesamt 300 000 deutschen Soldaten gab es kein letztes Flugzeug. Schönbeck aber überlebte.
Erster Teil der AZ-Serie: Der Mann, der beinahe den Holocaust verhindert hätte
"Ich bin neugierig auf jeden neuen Tag. Ich stehe immer mit einem Lächeln auf", sagt er. Auch wenn es gelegentlich wehtut. In seinem Appartement ist es still. So sehr, dass man das Dröhnen, das Beben, das Grollen, von dem er erzählt, zu hören glaubt. Manchmal, wenn er kurz einmal innehält in seinen Gedanken, weil ihn das Zurückdenken traurig macht, passiert etwas Seltsames. Dann scheinen seine letzten Worte in seinem Wohnzimmer nachzuhallen. Nicht weil er so laut sprechen würde, sondern weil seine Worte so viel in und mit sich tragen.
Alle paar Stunden zieht ein neues Flugzeug vor Schönbecks Fenster vorbei, und jedes Mal schaut er ihm nach und denkt an diese Szenen: wie seine Kameraden auf die letzten Maschinen, die im Kessel landen, zustürmen. Wie sie sich hineindrängen wollen. Wie sie schreien, flehen, weinen. Wie die meisten von ihnen scheitern, sich noch mit letzter Kraft an die Tragflächen der wieder startenden Flugzeuge klammern. Wie der Pilot in der Luft einmal kurz mit den Tragflächen ruckelt und die Verzweifelten abschüttelt. Wie sie vom Himmel herabfallen, zurück in die Hölle von Stalingrad.
"Ich bin neugierig auf jeden neuen Tag. Ich stehe immer mit einem Lächeln auf": Hans-Erdmann Schönbeck ist 94 Jahre alt und lebt in München. Foto: Hannes Brachat
Damals kauert Schönbeck in einem Erdloch, hört die Flugzeuge am Himmel. Rücken und Schulter aufgerissen, erblindet von einer schweren Wirbelsäulenverletzung, steif gefroren und auf 45 Kilogramm abgemagert liegt er dort bei minus 30 Grad.
Um ihn herum hat sich ein weißes Nichts aus Schnee ausgebreitet. Wie ein Leichentuch hüllen Schnee und Frost ihn ein. Dumpf hört er noch den Donner der Geschütze. Das Grollen, es kriecht Stunde um Stunde näher an ihn heran, und mit ihm nähern sich die Russen. Kurz zuvor hat ihm ein Kamerad noch eine Pistole mit nur einer Patrone zugesteckt, für den Freitod, wenn sie ihn in wenigen Stunden erreichen. Da hört er plötzlich im Gefechtslärm das vertraute Geräusch einer Heinkel He-111. Und dann die Stimme eines Kameraden. Der zieht ihn aus dem Loch heraus, nimmt ihn auf seine Schultern, wirft ihn in den Laderaum der Heinkel.
Schönbeck spürt, dass die Maschine an Fahrt aufnimmt, dass sie abhebt. Er erwacht erst wieder, als sich ein Sanitäter zu ihm hinabbeugt, in einem Lazarett hinter der Front. Langsam kehrt sein Augenlicht zurück. Er wird in einen Verletztentransport verladen und erreicht erst Wochen später endlich seine Heimat Breslau.
Zweiter Teil der AZ-Serie: Mein Nachbar, der Führer
Sieben Jahrzehnte später. Von seinem Küchenfenster aus kann er hinübersehen bis zum BMW-Tower am Petuelring. Der Vorstandsvorsitzende von BMW, wo Schönbeck so lange selbst im Vorstand saß, hat dort im 22. Stock der Firmenzentrale sein Büro. Schönbeck ist dort auch heute noch manchmal zu Gast, denn Harald Krüger, der aktuelle Boss, hält viel von Schönbecks Rat. Und so kommt ab und an eine dunkle 7er-Limousine bis vor die Tür des Seniorenheims gefahren, um Schönbeck abzuholen und zu Krüger zu bringen. Eine halbe Stunde lang nimmt sich der BMW-Chef dann Zeit für ihn. Die beiden trinken Tee, und Krüger möchte wissen, was früher wichtig war und was heute wichtig ist für den alten Herrn. Wie er BMW von außen sieht.
Hans-Erdmann Schönbeck freut sich, dass seine Meinung noch gefragt ist. Überhaupt sah er sich, trotz des Unheils, das er erlebte, immer auch als Glücksmensch. Als ein Hans im Glück.
Schönbeck brachte es nach dem Krieg als Top-Manager bis in den Vorstand von Audi, dann von BMW und dort auch in den Aufsichtsrat. Er war Präsident des deutschen und des europäischen Automobilverbandes. Er bekam das Bundesverdienstkreuz und den Bayerischen Verdienstorden.
Er geht gebeugt, und doch strahlt er noch immer eine große Würde aus. In seinem Gesicht liegt bis heute die Konzentration und Ernsthaftigkeit, mit der dieser Manager vom alten Schlag lebte und arbeitete.
"Du hast doch auf der Bombe gelegen! Gib es zu!"
Nach seiner Rettung aus Stalingrad verbrachte er ein Jahr im Lazarett. Danach schickte man ihn ins Oberkommando des Heeres in den Mauerwald in Ostpreußen, wo er in nächster Nähe zum Führerhauptquartier Wolfsschanze als Lagebearbeiter diente. Er war im Begleitkommando von Hitler bei dessen Flügen von Ostpreußen auf den Obersalzberg.
Doch schon vor dem Attentat am 20. Juli 1944 war aus dem Mitmarschierer ein Hitler-Gegner geworden. "Er hatte seine Soldaten verraten, ich wurde innerlich ein Gegner, der sich zutiefst wünschte, er möge getötet werden."
Hans-Erdmann Schönbeck fühlte sich den Offizieren sehr nahe, die sich gegen Hitler verbündeten. Sein Vorgesetzter im Oberkommando der Wehrmacht im Mauerwald, Karl-Heinrich Graf von Rittberg, zog ihn mehrmals ins Vertrauen: "Schönbeck, ich erwarte, dass Sie Ihren Eid brechen, kann ich auf Sie zählen?", fragte ihn der Major kurz vor dem 20. Juli. Und Schönbeck antwortete: "Jawohl, Herr Major, selbstverständlich. Sie können auf mich zählen!"
Er wusste seit diesem Moment, dass ein Attentat kurz bevor stand und schwieg – das allein hätte gereicht, um ihn wie so viele andere Mitwisser des Attentats hinzurichten. Schönbeck war mit dem Mitverschwörer Albrecht von Hagen befreundet, teilte mit ihm seine Baracke im Mauerwald.
Jener von Hagen hatte eine Sprengstoffbombe für Stauffenberg unter seinem Bett versteckt, zwei Meter von Schönbecks Matratze entfernt. Und so schlief Schönbeck tagelang neben der Bombe.
Wenige Tage nach dem 20. Juli verschleppt ihn die SS auf der Suche nach Mitverschwörern in ein Waldstück zum Verhör. Schönbeck glaubt schon an sein Ende. Die Männer traktieren ihn mit Fragen: "Du hast doch auf der Bombe gelegen! Gib es zu!", brüllen sie, aber sie können ihm nichts nachweisen. Dass ihm die Folter erspart bleibt, wundert ihn selbst bis heute.
Die große Enttäuschung aber, dass Hitler das Attentat überlebt, bleibt ihm. "Dass der 20. Juli scheiterte, war mein zweites Stalingrad", sagt er mit bebender Stimme und feuchten Augen.
Die Dämmerung hat sich jetzt über die Alpenkette am Horizont gelegt. Gleich kommt die Nacht und wird mit ihrem Schwarz den Himmel mit den Bergen vereinen. Wie bestellt ist der Mond aufgegangen. Jener Mond, der sein Vertrauter war in der bittersten Fremde.
Entnommen aus dem Buch "Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen" des ehemaligen AZ- Chefreporters Tim Pröse. Es ist im Heyne-Verlag erschienen (320 Seiten. Gebundene Ausgabe: 19,99 Euro, Kindle- Edition: 15,99 Euro).