Handwerker-Misere in München: Betroffene erzählen

Handwerker haben es in München nicht leicht. Viele werden dazu gezwungen, raus der Stadt ins Umland zu ziehen. Zwei Betroffene erzählen.
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Eine Viertelmillion investierte Andreas Gleißner in seinen neuen Betrieb.
Eine Viertelmillion investierte Andreas Gleißner in seinen neuen Betrieb. © Gleißner

München - Er werde wohl arbeiten müssen, bis er eines Tages tot umfalle, sagt Andreas Gleißner. Er ist ein Schreiner, 60 Jahre alt. Doch statt Geld fürs Alter beiseitezulegen, habe er vor kurzem noch einmal Schulden gemacht: Fast eine viertel Million Euro steckte er in eine neue Werkstatt.

Fast 20 Jahre lang fertigte Gleißner in Obersendling Küchen, Garderoben, Theken und Tresen. "Ich dachte, ich kann dort bleiben bis zum Ruhestand", sagt er. Doch dann lief sein Mietvertrag aus und das Gebäude sollte abgerissen werden. "Ich vermute, da kommen jetzt Büros hin", sagt Gleißner. Für mehr Profit bei weniger Schmutz. Innerhalb von sechs Monaten sollte er aus der Werkstatt draußen sein. Danach habe er sich in München etwa zehn Objekte angesehen. Alles Hallen ohne Heizung mit Quadratmeter-Preisen von bis zu 20 Euro oder Mietverträgen mit einer Laufzeit von maximal zwei Jahren.

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Nur noch 200 Handwerksbetriebe innerhalb des Altstadtrings

Eine neue Werkstatt fand Gleißner erst hinter der Münchner Stadtgrenze in Baierbrunn. Die nächste S-Bahn liegt eine halbe Stunde entfernt. Für einen seiner Mitarbeiter kaufte Gleißner deshalb ein Auto. Und auch er selbst verbringt mehr Zeit auf der Straße - denn viele seiner Kunden leben in München. Dass immer mehr Schreiner und Bäcker aus der Stadt gedrängt werden, beobachtet auch die Handwerkskammer. Zwar gebe es innerhalb des Altstadtrings noch über 200 Handwerksbetriebe, sagt Stefan Burger, der bei der Kammer für das Thema Stadtentwicklung zuständig ist. Doch viele würden wegziehen - weil in München Parkplätze fehlen, weil die Miete teuer ist, weil es keinen Platz gibt, den Betrieb zu erweitern - und weil sich die Probleme mit den Nachbarn häufen.

Schreiner Andreas Gleißner wäre lieber in München geblieben. Doch er musste wegziehen.
Schreiner Andreas Gleißner wäre lieber in München geblieben. Doch er musste wegziehen. © Gleißner

"Jeder will den Bäcker ums Eck, aber keiner will ihn sehen, riechen oder hören", sagt Burger. "Unser Lärmschutz-Experte hatte noch nie so viel zu tun." Dieser erstellt Gutachten, sucht mit Anwohnern nach Kompromissen - und oft unterstützt er Handwerker vor Gericht. Dort streitet Olaf Zimmermann gerade mit seinem Nachbarn. Zimmermann übernahm vor fast 30 Jahren eine Sanitär- und Heizungsfirma im Lehel, die damals bereits ebenso lange existierte. Probleme habe es nie gegeben, sagt Zimmermann. Zumindest bis vor zwei Jahren ein neuer Nachbar einzog. Dieser fühlt sich so gestört, dass er Zimmermann verklagte. Ein Streitpunkt ist der Müll. In eine Gitterbox im Hinterhof legt Zimmermann alte Heizkörper, alte Kloschüsseln. "Doch das stört angeblich die Ästhetik des Hauses", meint er. Ein weiterer Streitpunkt ist der Lieferverkehr. Denn angeblich beschädige er den Boden. Der Anwohner habe eine Unterlassungsklage eingereicht, sagt Zimmermann. Der Streitwert liege bei 250.000 Euro. Auch sein Vermieter sei verklagt worden. "Die versuchen uns rauszudrängen."

Olaf Zimmermann.
Olaf Zimmermann. © CSU

Erkennt die Politik den Ernst der Lage?

Dass es Handwerksbetriebe in München so schwer haben, hat auch die Politik erkannt. Vor Kurzem besuchte der CSU-Stadtrat Thomas Schmid den Heizungsbauer in seiner Werkstatt im Lehel. Früher sei es ein Handwerker-Viertel gewesen, sagt Schmid. Heute sieht man dort Anzüge statt Blaumännern. Schmid fordert deshalb nun, dass die Stadt ein Schutzkonzept für Handwerksbetriebe entwickeln muss. Handwerker sollen unter anderem Beratung erhalten. Um Handwerker in der Stadt zu halten, setzt die Stadt bis jetzt vor allem auf ihre zehn Gewerbehöfe. 450 Unternehmen fanden dort laut der Stadt "ihre neue Wirkungsstätte". Für Schreiner Geißler kam das allerdings nicht in Frage. Denn für ihn sei nur im Norden etwas frei gewesen. Für manche seiner Mitarbeiter hätte das eine noch längere Fahrt bedeutet als bis nach Baierbrunn.

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  • Bus Filser am 05.03.2021 17:08 Uhr / Bewertung:

    Wir Busunternehmer als Familienbetrieb haben ja die gleichen Probleme. Wahrscheinlich noch viel größer. Wir brauchen ja noch mehr Fläche. Und im Verhältnis zu den Angestellten und was die vermeintliche Umweltbelastung in der Innenstadt angeht, stehen wir mal ganz hinten an. Wir sollen zwar die Kinder zu den Schulen fahren, diverse Veranstaltungen durch Shuttlefahrten unterstützenweil ja nicht ein jeder mit dem Auto fahren soll, Touristen nach und durch München befördern, aber direkt vor der Haustür oder in einem Industriegebiet möchte uns auch keiner haben. Mal ganz davon abgesehen, daß die Preise für einen Busbetriebshof im Innenraum von München eh nicht bezahlbar sind.

  • Leserin am 05.03.2021 22:33 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Bus Filser

    Och, da muss man sich doch nur ein Beispiel an schlauen Unternehmen nehmen. Die Landsbergerstrasse ist der öffentlich finanzierte Betriebshof def Firma Watzinger und die Allacherstrasse der von der Spetition Ascherl. Also kein Neid. Nur nicht so dumm sein und eigene Flächen zuparken.

  • am 05.03.2021 14:24 Uhr / Bewertung:

    Jaja, leider verkommt München zunehmend zu einer kunterbunt verschwurbelten rotgrünen Wohnoase für Gutbetuchte. Den Herzschlag einer Stadt machen nicht nur das kulturelle Leben, sondern auch die wirtschaftliche Vielfalt aus. Ganz besonders die Kleinbetriebe verleihen einer Stadt Charme und Identität. Ganz zu schweigen von der praktischen Seite, der Schreiner nebenan ist zuweilen goldwert. Buy local sagt z.B. der Amerikaner und recht hat er.

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