Größter Wunsch erfüllt: Rückkehr ins Kinderheim nach 60 Jahren

Weihnachten hat er der AZ seinen größten Wunsch verraten: sein Kinderheim nochmal besuchen zu dürfen. Jetzt hat eine AZ-Leserin Franz Koppenstätter(71) dorthin begleitet. Ein Wiedersehen nach 60 Jahren.
von  Irene Kleber
...und organisiert Franz Koppenstätters Besuch im Kinderheim.
...und organisiert Franz Koppenstätters Besuch im Kinderheim. © Bernd Wackerbauer

Weihnachten hat er der AZ seinen größten Wunsch verraten: sein Kinderheim nochmal besuchen zu dürfen. Jetzt hat eine AZ -Leserin Franz Koppenstätter(71) dorthin begleitet. Ein Wiedersehen nach 60 Jahren.

München - Gleich neben dem Maibaum in Feldkirchen, am Ende der Einfahrt, da steht es noch. Dreistöckig, sandfarben, mit hohen grünen Fensterrahmen wie vor 60 Jahren, als Franz Koppenstätter hier Kind war. Und als der alte Herr sich im Hof langsam aus dem Auto schält, seinen Blick hinauf zu den Fenstern im ersten Stock wandern lässt, über den Hof, die Wiese, den Parkplatz, da kommen die Erinnerungen mit solcher Wucht, dass ihm die Augen ganz feucht werden.

"Da", sagt er dann, und zeigt auf einen flachen Holzbau, "da war unser Rollschuhfeld, wo ich mit meinem Spezl Michi herumgefahren bin. Dahinter war der Schweinestall vom Missionsbauernhof. Und da drüben der Kartoffelacker . . ."

Das Kinderheim Feldkirchen. 1954 hat seine Mutter Hedwig ihn mit acht Jahren hier abgeliefert, zusammen mit seinem älteren Bruder Werner. Der Vater war kurz zuvor an einem Kriegsleiden gestorben. Die Mutter hatte es allein nicht mehr geschafft, als Friseurin den ganzen Tag Münchnerinnen die Haare zu machen und gleichzeitig auf drei kleine Kinder aufzupassen.

Mehrere Jahre hat der kleine Franz im Kinderheim Feldkirchen zugebracht, ehe er wieder heim zur Mutter konnte, eine Lehre begann, später heiratete und eine gescheiterte Ehe und drei Schlaganfälle verkraften musste, die große Erinnerungslücken in sein Leben gerissen haben - nur nicht diese, an seine Kindheit hier. "Ich hab eine sehr schöne Zeit im Heim gehabt", sagt er nun mit glänzenden Augen. "Ich war ein Treibauf. Aber hier hab ich mich entfalten können. Das wär daheim in der engen Wohnung gar nicht gegangen."

Dass er das jetzt Revue passieren lassen kann, ist einem glücklichen Zufall geschuldet. Franz Koppenstätter war im Dezember zu einem Nikolaus-Essen für Senioren mit kleinem Geldbeutel geladen - vom Verein "Münchner für Münchner" von Bürgermeisters-Gattin Natalie Schmid. Dort hatte die Abendzeitung mehrere Senioren nach ihren Weihnachtswünschen gefragt und diese veröffentlicht. Auch Koppenstätters Wunsch, sein Kinderheim noch mal besuchen zu dürfen (siehe Foto unten).

Wenig später meldete sich AZ -Leserin Ursula Peters, die neben dem Heim wohnt, das heute eine Jugendhilfeeinrichtung der Inneren Mission ist, und bot an, für den Rentner eine Fahrt aus seinem Münchner Altenheim hierher samt Hausbesuch zu organisieren.

Nur mühsam reißt sich der alte Herr nun los vom Freigelände. Steigt die Stufen hinauf zum Eingang, lacht beim Blick nach rechts ("Mei, hier war der Speisesaal, da haben 140 Kinder gegessen."), staunt bei der Suche nach seinem alten Schlafsaal im ersten Stock rechts, wo damals an die 40 Buben Bett an Bett schliefen - und wo sich heute gemütliche Zweibettzimmer für Familienwohngruppen befinden.

Die Unterbringung kostete 127,50 Mark - inklusive "Aufsicht und Erziehung"

Und ist ganz angerührt vom Blick auf seine über 60 Jahre alte Akte, die der neue Heimchef Achim Weiss ihm vorlegt. Sie hat noch im Archiv gelegen, unten im Keller.

Dass er als Kind Keuchhusten, Scharlach und Gelbsucht gehabt habe, steht dort mit einem Füller geschrieben, dass er 1955 im April 32,2 Kilo schwer und 1,29 Meter groß gewesen sei. Dass seine Mutter monatlich 127,50 Mark für seine Unterbringung gezahlt hat, darunter zwölf Mark für "Aufsicht und Erziehung" und fünf Mark für monatliche Heimfahrten.

Und dann erzählt er, beim weiteren Rundgang, und mag gar nicht mehr aufhören. Wie sie als Kinder Wettessen gemacht haben, wenn es Kartoffelplinsen gab. Wie sein Freund Michi und er sich gesonnt haben, ganz hoch oben auf dem Klettergerüst. Kam ja keine rauf, von den Erzieherinnen.

Wie an Weihnachten die Bauern als Knecht Rupprecht verkleidet kamen, die Buben in einen Sack gesteckt und erst am Friedhof wieder rausgelassen haben.

Und dann natürlich die Geschichte vom SOS-Funken am Schlafsaalfenster. "Wir haben mit der Taschenlampe Lichtzeichen an die landenden Flugzeuge geschickt, weil damals ja die Flugschneise vom alte Riemer Flughafen genau vorm Fenster war. So ein Lausbubenschmarrn." Und zwei Mal, da sei sogar ein Flugzeug runtergekommen. Notgelandet. Aufregend sei das gewesen.

Schlechte Erinnerungen, wie bei vielen anderen Heimkindern, kommen Koppenstätter nicht in den Sinn. Nicht heute, jedenfalls.

"Es ist ja leichter, eine Sache zu verurteilen, als sie gutzuheißen, nicht wahr?", sagt er, als er die Treppe wieder hinunter steigt, Richtung Parkplatz. "Ich weiß nicht, ob es zuhause so schön gewesen wär. Das ist hier eine tiefe Wurzel für mich. Ein Stück von meinem Leben. Das zu sehen, ist einfach überwältigend."

Bevor Franz Koppenstätter wieder ins Auto steigt, schaut er noch einmal raus auf den früheren Kartoffelacker. Auf das gelbe Haus, drüben, das mal Missionsbauernhof war. Auf den Rollschuhplatz, auf dem heute eine Kinderkrippe steht.

"Ich komm wieder her", sagt er dann. Und dass es schön wäre, auch seinen Freund Michi, Michael Paschke, wiederzusehen. Er wisse halt aber nicht, was aus ihm geworden sei.

Ob vielleicht irgendjemand diesen Text lesen würde, der ihm das sagen kann?

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