Graffes Abschied als Sozialreferent: Mammutaufgabe Soziales

Abschied nach 17 Jahren als Sozialreferent. Friedrich Graffe weiß: „Man wird an diesem Schreibtisch nie fertig.“ Jetzt freut er sich auf die Zeit danach, die vor allem seiner Tochter gehört.
MÜNCHEN „Es ist ein bisschen wie so ein Rausch“, sagt Friedrich Graffe. Akten abschieben, Vermerke schreiben – und plötzlich ist die Zeit dann tatsächlich vorbei. Am kommenden Mittwoch hat Frieder Graffe seinen letzten Arbeitstag. Nach 17 Jahren als Sozialreferent der Stadt München.
„Ich bin froh, dass ich die Verantwortung für das Aufgabenfeld jetzt abgeben darf“, sagt der 62-jährige SPD-Mann in aller Offenheit. Ein bisserl Wehmut gehört natürlich zum Abschied. Und trotzdem überwiegt bei Graffe das Gefühl: „Es ist an der Zeit, dass sich jemand anderes mit diesen Themen befasst. Und vielleicht mit neuem Blickwinkel darangeht.“ Und das wird in Zukunft die Diplom-Sozialpädagogin und bisherige SPD-Stadträtin Brigitte Meier sein.
Der Stabwechsel erfolgt in einer Zeit, in der die Armut in München wächst. 42144 Haushalte leben in der Stadt von Hartz IV. Mehr als 20500 Kinder sind betroffen. Die Aufgaben für die neue Sozialreferentin türmen sich, noch bevor sie angefangen hat. „Man wird an diesem Schreibtisch niemals fertig,“ hat Graffe seiner Nachfolgerin schon mit mit auf den Weg gegeben. Die Themen kehren immer wieder. Und sind nie abgearbeitet.
Was rät er, der die soziale Stadt so lange geprägt hat, Brigitte Meier für den Neustart ins Amt? „Man muss nicht alles und jede Frage sofort beantworten“, sagt Graffe. „Wir neigen dazu, viel zu schnell etwas zu tun. Und dafür sind die Aufgaben, die wir hier haben, viel zu komplex.“
Noch eine Graffe’sche Regel: Man darf Dinge nicht zu nah an sich heranlassen. Kaum eine Veranstaltung, von der er nicht mit vier bis fünf Zetteln in der Tasche nach Hause kam. Von Menschen, die Hilfe brauchen. „Man darf nicht anfangen, die Einzelfälle selbst zu bearbeiten.“
Friedrich „Frieder“ Graffe – ein Teamspieler. Sein Referat lobt er in höchsten Tönen. Auf die Frage, welche Erfolge er sich selbst zurechnet, reagiert er zuerst mit einem Kopfschütteln. „Ich bin nicht der Typ, der sagt: Das ist mein Werk.“ Immerhin bräuchte es immer einen Stadtratsbeschluss. Wenn man ihn dann aber nochmal fragt, sprudelt doch so Einiges aus ihm heraus, auf das er stolz ist. Die Idee zum Beispiel, die damals stark sanierungsbedürftigen Altenheime in eine GmbH zu überführen. Die war seine.
Die Einrichtung der 13 Sozialbürgerhäuser. Klar, die Umorganisation sei ein Gemeinschaftsprojekt gewesen, betont er. Da ist er wieder, der Team-Spieler. „Aber ohne mich wäre der Prozess nicht zu einem Ende gekommen.“
Als dritten Punkt nennt er das Thema Obdachlosigkeit. Er ist immer noch froh, dass ein Schandfleck wie der Tiefbunker am Jakobsplatz beseitigt worden ist. In dem Raum ohne Fenster und ohne künstliche Belüftung hatten die Ärmsten der Armen früher Schutz in kalten Wintern gesucht. „In München muss niemand auf der Straße wohnen“, sagt der Noch-Sozialreferent. Ein Satz, den er kreiert hat. Und der zum Credo wurde. Es gäbe genug Kapazitäten, um jedem eine Unterkunft zu bieten.
Natürlich gab es nicht nur Erfolge. Und in schwierigen Zeiten, da brauchte Graffe viele Gummibärchen – zur Nervenberuhigung. Im Referat spricht man davon, dass sie sein Doping sind. Wie viele Frucht-Gummis er wohl während des Dramas um den Serienstraftäter „Mehmet“ gegessen hat? Die Auseinandersetzungen mit dem damaligen Ordnungsamtschef Hans-Peter Uhl haben Graffe „mächtig geärgert“. Dass der Fall des Jugendlichen zu Wahlkampfzwecken hochgezogen und instrumentalisiert worden sei. „Und die Verallgemeinerung, dass das Sozialreferat solche gewaltbereiten Jugendlichen fördert, unterstützt, schützt.“
Was Graffe immer noch bedauert, ist die künftige Bündelung der Kinderbetreuung im Schulreferat. Bislang hatten die Krippen zu seinem Bereich gehört. Jetzt ändert sich die Zuständigkeit. Und das hält er für einen Fehler. „Ich fürchte, dass das Leistungssystem der Schule sich auf die Kindertagesbetreuung überträgt“, erklärt Graffe seine Vorbehalte. Auch wenn er mit der Sorge „allein auf weiter Flur war“.
An seinem vorletzten Arbeitstag ist nochmal ein Sozialausschuss. Dabei geht es auch um die Neuorganisation der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung, kurz Arge. Ein Thema, das ihm am Herzen liegt. Graffe möchte, dass die Stadt eine „Optionskommune“ wird, sich also künftig allein um Langzeitarbeitslose kümmert – ohne Arbeitsagentur. Doch die SPD, seine Partei, ist dagegen.
Wenn der Ausschuss vorbei ist, hat er es wirklich geschafft. Der Mann, der mit seinen Pullis immer bewies, dass er gerne Farbe bekennt (sogar Pink!). Der Mann, der Jurist gelernt hat. Und der zuerst im Kommunalreferat anheuerte. „Vor allen Dingen durfte ich mich um Grundstücksenteignungen kümmern.“
Als klar war, dass 1993 ein neuer Sozialreferent gebraucht wird, gab es neben Graffe eine weitere Kandidatin: Ulrike Mascher, heute Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. Doch beide einigten sich eines Abends darauf, dass er es macht. Eine Kandidatenkür im Vier-Augen-Gespräch, lange vor dem Wolfratshauser Frühstück.
Zu viele neue Aufgaben will Graffe sich nicht antun. Denn daheim wartet Sophia – sein dreijähriges Töchterchen und ganzer Stolz. „Bei meiner Familie glaube ich nicht, dass mich Langeweile erfasst.“
Ach, eine neue Tätigkeit gibt’s dann doch: Pünktlich ab Juli ist Graffe ehrenamtlicher Richter am Bundessozialgericht. Die Urkunde mit dem dicken Adler drauf hat er schon. Bis zu acht Mal pro Jahr wird er sich in seiner neuen Funktion mit dem Sozialhilferecht befassen. Eine Beschäftigung, aus die er sich freut. Und die trotzdem viel Zeit lässt: für die Familie.Julia Lenders