Giselas unzüchtige Schallplatte: Schwabing und die Sittlichkeit

Ein bizarrer Prozess vor genau 60 Jahren: Eine Schallplatte der Schwabinger Gisela war der Staatsanwaltschaft zu unzüchtig.
Karl Stankiewitz |
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Bald wird sie geradezu weltberühmt: die Schwabinger Gisela in ihrem Element, beim Singen in ihrer Kneipe.
Bald wird sie geradezu weltberühmt: die Schwabinger Gisela in ihrem Element, beim Singen in ihrer Kneipe. © Heinz Gebhardt

München - Schlagartig schwärmten Polizisten am frühen Morgen des 26. Februar 1960 im ganzen Bundesgebiet aus, um einer Schallplatte habhaft zu werden. Die Single hatte einen simplen Titel: "Bei Gisela". So hieß auch die Kneipe in der Münchner Occamstraße 8 (heute "Vereinsheim"), die von der aus Moers zugewanderten Gisela Jonas bewirtschaftet wurde. Die 31-Jährige, die eigentlich Ausdruckstänzerin oder Rennfahrerin werden wollte, hatte gerade die erste Stufe der Karriereleiter bestiegen, indem sie allabendlich nicht nur servierte, sondern die Gäste auch durch leicht schlüpfrige Liedchen amüsierte.

Eine Weltfirma ließ alsbald einige der Songs auf eine Platte pressen: auf einer Seite die Dirnenklagen "Späte Reue" und "Im Morgengrauen", auf der anderen eine Auswahl der - vom Münchner Architekten Alexander Gorsky verfassten - pikanten Strophen mit dem Refrain: "Aber der Nowak lässt mich nicht verkommen", die Gisela allabendlichen mit ihrer rauchig sinnlichen Stimme vortrug.

Für 7,50 Mark wurde die Unsittlichkeit gewissermaßen aus der Intimsphäre des Schwabinger Nachtlokals heraus unters Volk gebracht und somit auch der Jugend zugänglich gemacht.

Wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt

So jedenfalls erkannte einen Straftatbestand der für Sittlichkeit zuständige Münchner Staatsanwalt Franz Peintinger, der schon gegen ein "unzüchtiges Bierglas", einen Oktoberfest-Scherzfotografen und den Film "Die Jungfrauen-Quelle" eingeschritten war. Obendrein leiteten die "Zentralstellen zur Bekämpfung jugendgefährdender Schriften" in Hessen, Hamburg und Bremen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen des Tonträgers ein. Der großen Razzia folgte nach monatelangen Ermittlungen ein Prozess vor dem Amtsgericht München.

Die wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagte Gisela Jonas war sehr schüchtern. Zu ihrer Verteidigung sagte sie nur, dass sie sich auf die Hersteller der Platte verlassen habe und dass sie doch die Lieder, um die jetzt eine Staatsaktion gemacht werde, schon seit Jahren in einem immerhin öffentlichen Lokal singe, ohne dass sie auch nur "die leisesten Anstände" bekommen habe.

Das Cover der Single.
Das Cover der Single. © Archiv

"Im Publikum befanden sich auch viele Herren aus dem Justizdienst," merkte ihr Verteidiger süffisant an. Er hob die "sozialkritische Funktion" der Songs hervor und verwies auf ähnliche Texte von Villon, Kästner und Brecht, die alle öffentlich verkauft würden.

"Gebildete Dame mit stark unzüchtigem Charakter" 

Der Staatsanwalt indes meinte, die Angeklagte hätte ja beim Jugendamt kostenlos Auskunft darüber einholen können, ob ihr Liedgut nicht jugendgefährdend sei. Es sei auch ein Unterschied, ob diese "abscheulichen Dinger" in einem Lokal oder auf einer Schallplatte dargeboten würden.

Denn ein Wort sei wie Schall und Rauch, während eine Platte in unkontrollierbare Kanäle gelangen könne. "Wir wissen nicht, zu wie vielen Unzuchtshandlungen sie gebraucht wurde," munkelte Peintinger und forderte eine Geldstrafe von 5.000 Mark für Gisela, die er als "gebildete Dame mit stark unzüchtigem Charakter" bezeichnete.

Gisela wurde bald geradezu weltweit berühmt

Am 27. Oktober sprach der Amtsrichter ein salomonisches Urteil: Die singende Barwirtin wurde von der Anklage freigesprochen. Es sei klar, dass zu einem Kabarett auch der "sinnliche Funke" gehöre. Diese Chansons verletzten jedoch objektiv das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl. Deshalb seien die Aufnahmen, soweit man ihrer noch habhaft werde, unbrauchbar zu machen. Da man eine Schallplatte aber nicht halbieren könne, müsse leider auch die nicht anstößige Rückseite vernichtet werden.

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Trotz oder gerade wegen der gerichtlich verhandelten Sittenkomödie wurde Gisela bald geradezu weltweit berühmt. Wenn sie ihren "Nowak" sang, der es auf über 80 Strophen brachte, saßen schon mal Udo Jürgens oder Konstantin Wecker am Klavier. Und am Tresen sah man etwa Erich Kästner, Leonard Bernstein, Edward Kennedy, Ava Gardner, Orson Welles, Kirk Douglas ebenso wie namhafte deutsche Politiker wie Franz Josef Strauß. Von Moral war da fortan kaum mehr die Rede.

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1 Kommentar
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  • Der wahre tscharlie am 28.10.2020 16:33 Uhr / Bewertung:

    "Trotz oder gerade wegen der gerichtlich verhandelten Sittenkomödie wurde Gisela bald geradezu weltweit berühmt."

    Daran sieht man mal, dass es immer die erzkonservativen Sittenwächter waren, die am meisten zum Bekanntheitsgrad von Personen oder Liedern beigetragen haben.

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