"Gesprächsbedarf": Was der Münchner Rapper Achim Waseem Seger über den Nahost-Konflikt denkt
München - Spätnachts brannten am Stachus weiße Kerzen: Das war die spontane palästinensische Trauerkundgebung am Dienstag vor einer Woche. Die Versammlung war nicht vorab genehmigt, die Polizei hat sie jedoch spontan zugelassen. Achim Waseem Seger (37) stieß um Mitternacht dazu. "Es gab keine Parolen, aber palästinensische Flaggen", sagt er.
Der gläubige Muslim ging zu den rund 50 Menschen, um mit ihnen in Stille zu beten: "Nicht alleine zu trauern – das haben wir alle gebraucht. Und nicht dafür angegriffen zu werden, dass wir trauern! Es ging in erster Linie um Ruhe, Besinnung und die Gedanken an die palästinensische Zivilbevölkerung", erklärt der Münchner Rapper, Jugendsozialarbeiter, der bei der Landtagswahl für Die Urbane/Die Linke kandidiert hat. Die AZ sprach mit dem Antirassismusaktivisten über die momentane Stimmung in München.
Jüdische und muslimische Community in München sind "schockiert, überfordert und verängstigt"
AZ: Herr Seger, wie erleben Sie die muslimischen und jüdischen Communitys im Augenblick in München?
ACHIM WASEEM SEGER: Nach dem 7. Oktober sind viele jüdische und muslimische Menschen schockiert, retraumatisiert, überfordert und verängstigt. Ich versuche, möglichst solidarisch mit beiden Seiten zu sein. Bei mir klingelt jetzt den ganzen Tag das Telefon. Gerade auch Jugendliche suchen nach Erklärungen. Es gibt viel Propaganda. Alle sind betroffen. Jugendliche dürfen traurig und wütend sein. Aber sie dürfen sich nicht aufhetzen lassen.
Sie arbeiten seit sieben Jahren für die jüdisch-muslimische Verständigung in München.
Schon privat bin ich ganz nah am Thema. Ich habe eine jüdische Partnerin, wir haben ein gemeinsames Kind. Als Mitgründer und Kurator starte ich am 2. November wieder das jüdisch-muslimische Kunstfestival AusARTen. Es beginnt mit einer Ausstellung im Fat Cat (früherer Gasteig). Dazu kommen Diskussionen im Bellevue die Monaco, im Jüdischen Museum und Musik-Workshops und Konzerte im Import Export. Wir besprechen Rassismuserfahrungen, es gibt ein interreligiöses Erzählcafé. Wir setzen auf einen Perspektivwechsel durch Kunst!
Achim Waseem Seger warnt: Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus nehmen zu
Ihr Vater ist Ägypter, ihre Mutter kommt aus dem Allgäu. Spüren Sie als Muslim, der beim Münchner Forum für Islam (MFI) engagiert ist, Folgen des Konflikts?
Erste Folgen sind spürbar. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus nehmen zu – und werden weiter zunehmen. Doch ich spreche mich hier explizit und laut gegen Vorverurteilungen aus. Jüdische Menschen, die in München leben, sind keine Stellvertreter für israelische Politik. Genauso sind palästinensische Menschen nicht die Stellvertreter der Hamas. Es sind unsere Mitbürger und Mitmenschen. Wir setzen uns gegen eine Trotzhaltung ein. Wir wollen deeskalieren und auf die Samen und die zarten Pflänzchen der Gemeinsamkeit aufpassen und sie gießen. In Gedanken an unschuldige Zivilisten als Opfer ist es vorstellbar, dass es gemeinsame Friedensdemos von jüdischen und muslimischen Communitys gibt. Das wünsche ich mir.
"Demonstrieren ist ein Grundrecht": Jeder hat das Recht sichtbar zu sein
Imam Benjamin Idriz kritisierte, dass bei der Gedenkveranstaltung vor der Münchner Synagoge keine muslimischen Vertreter sprechen durften. Er nannte es eine "verpasste Chance".
Die Israelitische Kultusgemeinde hat Idriz schon öfter eingeladen. Diesmal nicht. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen. Aber die jüdische Gemeinde darf ihre Veranstaltung selbstverständlich organisieren, wie sie möchte. Es gibt großen Gesprächsbedarf zwischen den Communitys.
Wie stehen Sie zu dem Verbot des KVR für pälästinensische Demonstrationen, das inzwischen von einem Gericht gekippt worden ist?
Das Verbot finde ich schwierig. Demonstrieren ist ein Grundrecht und das Verbot unterdrückt es ja nur etwas. Die Veranstalter müssen jedoch schon bei der Planung im Vorfeld Verantwortung übernehmen. Bei der Frage: Wer spricht – und was wird gesagt. Und sich explizit gegen Terror und Krieg positionieren. Veranstalter können darauf einwirken, dass bestimmte Schilder oder Rufe ausbleiben.
Worauf hoffen Sie?
Es ist wichtig und richtig, öffentlich zu trauern und sich gegen den Krieg auszusprechen, besonders auch die Zivilgesellschaft gemeinsam. Palästinensische Menschen wollen in München auch sichtbar sein. Sie sollten die Möglichkeit und das Recht haben ihren Protest und ihre Angst sichtbar zu machen – sowie ihr Bedürfnis nach Frieden und Freiheit.