Geschichte der Bundestagswahlkämpfe: Münchens wilder Süden
"Sans denn jetzt alle narrisch worn", brummte Thomas Wimmer anlässlich eines typischen Münchner Wahlkampfes. Dem biederen Sozi (AZ-Redakteur Gerd Thumser schrieb ein nie aufgeführtes Bühnenstück "Unser Dammerl") waren Personenkult und ideologische Gschaftlhuberei arg zuwider, lieber griff er selbst zur Schaufel, so beim "Rama dama" beim Schutträumen.
Bundestagswahlkreis München-Süd: Charakterköpfe der Politik
Tatsächlich war die größte deutsche Kommune immer eine bundesweit beachtete Arena für Politstars roter wie schwarzer Couleur (und somit beliebtes Jagdrevier für uns Nachrichtenjäger).
Musterbeispiel: der Bundestagswahlkreis München-Süd, einer von vier in der Stadt. Ein ungleicher Verbund aus den alten Arbeitervierteln Sendling und Giesing mit den Nobelquartieren Solln und Harlaching und mit Hadern.
Inzwischen ist er auf gut 200.000 Wahlbürger angewachsen. Bis weit in unser Jahrhundert hinein wurden hier immer nur Männer gewählt, die innerhalb und außerhalb ihrer Parteien und weit über München hinaus Furore machten. Wäre der Begriff nicht aktuell anderweitig belastet, könnte man jeden Einzelnen als Querdenker bezeichnen.
Ein Arbeiterführer war der Erste, der 1949 für den schönen Münchner Süden in den ersten Deutschen Bundestag einzog. Max Wönner legte sich dort sofort mit der Adenauer-Regierung an, weil ihm die amerikanisch orientierte Wiederaufrüstung missfiel. Auch als Ortsvorsitzender des in München gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), welcher damals vor allem mit der Fünf-Tage-Woche ("Samstags gehört Papi mir") die Massen mobilisierte, geriet der gelernte Schlosser in Streit, desgleichen mit seiner SPD, der er 1967 sogar den Untergang voraussagte.
Ein ebenso kampferprobter Handwerker rückte 1953 für die CSU, deren Münchner Ortsverband er mitgegründet hatte, mit immerhin 49 Prozent der Erststimmen nach. Als Mitglied der "Freiheitsaktion Bayern" hatte Karl Wieninger kurz vor Einmarsch der Amerikaner einige Nazis mit der Pistole festgesetzt, um dann im Auftrag der Besatzer eine Hilfspolizei gegen die Plünderer zu organisieren. Zweimal wurde er als Bundestagsabgeordneter wiedergewählt. Seine Autobiografie ("In München erlebte Geschichte") und der "Karl-Wieninger-Weg" in Forstenried erinnern an den verdienstvollen Politiker.
Wie Günther Müller eine überraschende Kehrtwende vollzog
Das Pendel schlug dann im Wahlkreis 219 wieder nach links. Der Historiker Günther Müller aus Passau war seit 1956 Landesvorsitzender des radikalen SDS, der zehn Jahre später die Studentenrevolte anführen sollte, und stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos. 1965 boxte er sich nach Bonn durch, vier Jahre später noch mal mit dem neuen Rekord von 53 Prozent.
Während der damaligen Querelen in der Münchner SPD vollzog Günther Müller jedoch eine aufsehenerregende Kehrtwendung nach rechts. Nachdem er mit einer eigenen Partei ("Sozialen Demokraten") gescheitert war, trat er der CSU bei, für die er ab 1972 einen niederbayrischen Wahlkreis im Bundesparlament vertreten durfte, mit besonderer Gunst durch Franz Josef Strauß. Bei seinen ehemaligen Sozis witterte er inzwischen Trends zur "kommunistischen Globalstrategie" .
Auf den Roten Rudi folgt der Präsident der Münchner Löwen
Für München-Süd wurde Müller im Olympiajahr 1972 vom "Roten Rudi" abgelöst. Regierungsassessor Rudolf Schöfberger führte die bayerischen Jusos, war treibende Kraft beim Verdrängen von Hans-Jochen Vogel (er verspottete den OB als "Gottvater") und avancierte sogar zum Landesvorsitzenden der SPD, die ihm ein bis 1994 währendes Mandat im Bundestag sicherte.

Seine Maxime war der Kampf gegen das "große Geld", sein Stil urbayerisch - eine nicht nennenswert erfolgreiche Neuerung der Bayern-SPD, wie sie fortan firmierte, deren Kader von Franken und Sudetendeutschen stark durchsetzt waren.
Ein Egerländer war der Südmünchner Nachfolger in der Bundeshauptstadt. Ab 1976 wurde Erich Riedl, den wir Journalisten als Pressesprecher der Post und mehrere Jahre als Vize der Münchner CSU kannten, nicht weniger als sechs Mal in den Bundestag gewählt. Beim ersten Mal war er noch Präsident des Fußballvereins 1860 München, den er in die Bundesliga zurückführte, aber acht Jahre später den Zwangsabstieg verantwortete.

1991 soll der Haushaltspolitiker und Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium eine halbe Million Mark "Provision" aus einem Deal mit dem obskuren Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber erhalten und nicht versteuert haben. Es kam zur Hausdurchsuchung und vorübergehenden Aufhebung der Immunität. 1998 schied Riedl aus. Seine Karriere endete eher unrühmlich: als "Regierungsberater" für Angola.
Christoph Moosbauer: Experte für den Nahen Osten
Zum Experten für den Nahen Osten in der Bundestagsfraktion der SPD brachte es dann der langjährige Münchner Juso-Chef Christoph Moosbauer, über den ausnahmsweise keinerlei Parteienzwist und schon gar keine Affären ruchbar wurden. Der Garmischer vertrat die Drehscheibe München-Süd ab 1998 auch nur für die normalen vier Jahre.

Nach dem Umzug der Volksvertretung der wiedervereinigten Republik in die alte Hauptstadt Berlin, standen 2002 wieder Wahlen an. Für diesen Neubeginn des parlamentarischen Lebens fuhren die Parteien schweres Geschütz auf.
Der Schwarze Peter holt ein ums andere Mal das Direktmandat
Da ging die Runde für München-Süd an Peter Gauweiler. Als ehemaliger Kreisverwaltungsreferent unter Erich Kiesl (CSU) hatte er bereits höchst umstrittene Feldzüge gegen das "Dirnenunwesen" und "drohende Verwahrlosung" der Landeshauptstadt geführt sowie einen kuriosen Schaukampf gegen den Wiesnwirt Süßmeier. Als Innen-Staatssekretär unter seinem Gönner Strauß verstärkte er die polizeiliche Macht bis hin zum Einsatz von Reizgas gegen die WAA-Gegner in Wackersdorf. Als gefragter Anwalt stritt er - bis in die höchsten Gerichte - gegen die Brüsseler Bürokratie, den Euro, Auslandseinsätze und vieles andere, oft in Kontroverse mit seiner Partei.
Während Gauweiler 1993 als Münchner OB-Kandidat gegen Christian Ude unterlag, konnte er im Kampf um Berlin im Wahlkreis München-Süd alle vier Jahre neue Erfolge einheimsen. 2009 kam es zu einer vertrackten Konstellation: Die SPD schickte Christian Vorländer ins Rennen. Der outete sich, als schwul, er setzte sich als einer der Ersten für die eheliche Gleichstellung ein, die der Grüne Münchner Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag damals noch ablehnte.

Dass Vorländer ein Wahlplakat der Grünen kopierte, kreidete ihm seine eigene Partei jedoch als "Raubrittermethode" an. Gewählt wurde dann - sowie für die folgende Periode - erneut der "Schwarze Peter" Gauweiler, der 1987 Zwangstests für Aids-Kranke vorbereitet und die betroffene Wählergruppe verschreckt hatte. Wegen der Europapolitik legte er 2015 alle Parteiämter nieder.
Im Reichstag ersetzt ihn, mit dem bisher niedrigsten Wahlergebnis in diesem eigenartigen Münchner Wahlkreis, seit 2018 der Rechtsanwalt Michael Kuffer, ein Fachmann für Rettung und Katastrophen, dem ebenfalls immer wieder einige Interessenskonflikte nachgesagt werden. Gegen ihn tritt für die bevorstehende Wahl noch einmal der SPD-Rechtsanwalt und Gewerkschafter Sebastian Roloff und die junge Grüne Jamila Schäfer an, beiden scheint Sachlichkeit wichtiger als alle Provokation. Die Sterne des Südens, sie glimmen nur noch.