Generation gnadenlos

MÜNCHEN - Immer jünger, immer zahlreicher, immer brutaler werden die jugendlichen Straftäter: In München stiegen die Gewaltdelikte um 25 Prozent. Im Juni beginnt der Prozess gegen die U-Bahnschläger vom Arabellapark - wegen Mordversuchs.
Zwei junge Männer prügeln einen Rentner, dem sie körperlich haushoch überlegen sind, zu Boden, nehmen Anlauf und treten ihm mehrmals gegen den Kopf. Fast vier Monate sind seit der brutalen Attacke auf den pensionierten Schulleiter Bruno N. (76) vergangen. Seitdem sitzen Serkan A. (20) und Spiridon L. (17), die den Rentner am 20. Dezember im U-Bahnhof Arabellapark fast töteten, in U-Haft. Bis sich die beiden wegen Mordversuchs vor Gericht verantworten müssen, werden noch einmal fast zwei Monate vergehen. Wie die AZ erfuhr, soll der Prozess nun in der Woche ab 23. Juni beginnen.
Außergewöhnlich an diesem Gewaltexzess war, dass eine Videokamera alles aufgezeichnet hatte: 40 Sekunden des Grauens, die sich jeder Fernsehzuschauer oder Internetnutzer ansehen konnte. „Dass einer, der am Boden liegt, auch noch mit Füßen getreten wird, das haben sich viele einfach nicht vorstellen können“, sagte Innenstaatssekretär Jürgen W. Heike in dieser Woche bei einer Fachtagung der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Er will kriminelle Ausländer schneller ausweisen und fordert die häufigere Anwendung des härteren Erwachsenenstrafrechts für Heranwachsende (18-21-Jährige) sowie schnellere Urteile.
Die deutschen Jugendlichen holen auf
Doch Aggression und Gewaltbereitschaft junger Menschen sind nicht erst seit Serkan und Spiridon ein explosives Thema. In den vergangenen zehn Jahren stiegen die Gewaltdelikte in Bayern um 20 Prozent, in München sogar um 25 Prozent. Etwa 80 Prozent aller Gewaltstraftaten sind gefährliche und schwere Körperverletzungen. Nachdem die Zahl der jungen ausländischen Verdächtigen schon vorher überproportional hoch war, haben nun auch die deutschen Jugendlichen aufgeholt: plus 47,2 Prozent. Dabei spielt Alkohol eine große Rolle: Jeder vierte Jugendliche und jeder zweite Heranwachsende waren zur Tatzeit betrunken.
Auffallend ist außerdem, dass fünf bis zehn Prozent der Täter „Intensivtäter“ sind. Als solcher gilt, wer innerhalb von sechs Monaten mindestens vier Delikte (darunter eine Gewalttat) begeht. 88 solche Jugendliche und Heranwachsenden führt die Münchner Polizei derzeit in ihrem Proper-Programm (Personenorientierte Ermittlungen). Nur zehn sind Deutsche ohne Migrationshintergrund, fünf sind Mädchen.
Wenn Siebenjährige straffällig werden
Die erhöhte Gewaltbereitschaft der Jugend bekommt auch Franz Joseph Freisleder, ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu spüren: „Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht die Polizei vorfährt und einen Jugendlichen mit Aggressions- und Autoaggressionsproblemen vorbeibringt.“ Es sei ein weltweites Phänomen, dass schon Sieben- bis Zehnjährige vermehrt straffällig werden: „Auch bei Mehmet hat man schon sehr früh eine Störung des Sozialverhaltens erkannt. Doch seine Eltern haben nicht ausreichend kooperiert.“
Je früher gefährdete Kinder erkannt werden, umso mehr Möglichkeiten haben Sozialpädagogen, Psychologen und Mediziner. Am liebsten wäre Freisleder, Risiko-Kinder würden schon unmittelbar nach der Geburt erkannt. „Wenn Eltern nicht helfen können oder wollen, muss der Staat eingreifen.“
Häufig stammen gewalttätige Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen und haben bereits zu Hause Gewalterfahrungen gemacht. Zehn Prozent aller Münchner Kinder leben in wirtschaftlich benachteiligten Familien. Franziska Haase vom LKA: „Die Prognose schaut eher schlecht aus.“
Sozialtherapie "kann viel erreichen"
In Pasing ist derzeit ein geschlossenes Heim für etwa zehn extrem auffällige Jugendliche im Alter von 13 bis 16 Jahren geplant. Im Mai will der Stadtrat darüber abstimmen.
Für psychisch kranke, schuldunfähige oder vermindert schuldfähige junge Straftäter soll außerdem bei Regensburg ein Maßregelvollzug entstehen. Hier könnten Mörder wie Michael F. (21) untergebracht werden, der 2002 die Projektmanagerin Gudrun Wudy in Poing umbrachte, vergewaltigte und filmte. Auch Sven Kemmerzell, der Vergewaltiger der kleinen Anna, wäre ein Kandidat für diese Unterbringung gewesen. Freisleder fordert auch für schuldfähige junge Straftäter mehr sozialtherapeutische Ansätze in der Haft: „Da kann viel erreicht werden.“
Ob U-Bahnschläger Serkan A. wie sein Freund Spiridon für schuldfähig befunden wird, wird sich erst im Prozess zeigen. Er hat sich einer Begutachtung verweigert. Beiden droht eine mehrjährige Strafe.
Nina Job