G8: Ein einziges Lernen & Leiden

MÜNCHEN - Achtzügige Oberstufe: Die Schüler fühlen sich als Versuchskaninchen missbraucht und von Lehrern und Politik verlassen. Eine Mutter sagt: „Da muss erst jemand springen, bis sich endlich was ändert“
Es ist die große Herausforderung von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU): Die Reform des bayerischen Gymnasiums. Auch im siebten Jahr nach Einführung des achtzügigen Gymnasiums (G8) reißt die Kritik nicht ab. Angesichts unsicherer Abiturvorbereitung und neuer Oberstufe wird sie sogar noch lauter. Im Frühjahr 2011 werden gleich zwei Jahrgänge ihr Abitur machen. Darunter auch Louisa aus der neuen G8-Oberstufe und Mike, der zur Zeit die alte Kollegstufe G9 besucht. In der AZ erzählen sie, wie sie leben, lernen – und leiden.
Die Schule beginnt für Louisa Baumgärtel (16) schon beim Frühstück. Schnell noch den Hefteintrag durchlesen, man könnte ja ausgefragt werden. Louisa ist zwar am Vorabend bis 23 Uhr am Schreibtisch gesessen, aber Deutsch hat sie nicht mehr ganz geschafft. Dann von 8 bis 17 Uhr von einer Unterrichtsstunde zur nächsten – Chemie, Französisch, Deutsch. Der Stoff ist enorm, den Druck spüren die Schüler in jeder Stunde.
„Ihr seid jetzt Oberstufe, macht euch darauf gefasst“, sagen die hilflosen Lehrer. „Ich quäl’ mich nur noch von Stunde zu Stunde, um mich mit Stoff zudröhnen zu lassen“, sagt Louise. Und was sagt ihre Mutter? „Wir haben es hier mit einer Generation zu tun, die um ihre Kindheit betrogen wird.“
Wer im letzten G9-Zug in der 12. Klasse durchfällt, muss noch mal in die 10. gehen.
Louisa gehört zu dem ersten Jahrgang, der seit der Einführung des achtzügigen Gymnasiums in die neue Oberstufe geht. Sie fühlt sich als Versuchskaninchen missbraucht. In dem neuen System gibt es keine Unterteilung in Grund- und Leistungskurse mehr – dafür wissenschaftliche und praktische Seminare, die auf Uni und Berufsleben vorbereiten sollen. Louisa ist davon wenig begeistert: „Da erfährt man eh’ nur, was nicht geht. Die Sachen, die man machen will, sind überfüllt oder der NC ist unschaffbar. Ich wollte mal Ärztin oder Journalistin werden. Jetzt will ich nur noch mein Abi und einen sicheren Arbeitsplatz.“
Bei ihrem Schulkameraden Mike Cross (17), der die letzte K12 mit Leistungskurssystem besucht, sieht das ganze entspannter aus. „Klar wird viel verlangt, aber gerade in den Leistungskursen hat man auch die Zeit dafür, Dinge richtig zu vertiefen“. Nur Durchfallen dürfen Mike und seine Klassenkameraden nicht. Dann müssten sie nämlich wegen des völlig anderen Lehrplans noch mal in die 10.Klasse gehen.
Während Mike an drei Tagen die Woche nachmittags Unterricht hat, ist Louisa jeden Nachmittag in der Schule. Für Freunde und Hobbys bleibt ihr seit diesem Jahr keine Zeit mehr. Die Eltern von G8-Gymnasiasten im Münchner Osten, die sich zu einer Initiative zusammengeschlossen haben, wissen nicht mehr weiter: Sie berichten von Kindern, die seit Monaten nicht mehr gelacht haben. Louisas Mutter findet drastische Worte: „Da muss erst jemand springen, bis sich endlich was ändert.“
"Der Stoff muss konkret eingegrenzt werden", fordern die Eltern
Dabei hat Kultusminister Ludwig Spaenle erst kürzlich einen 6-Punkte-Plan präsentiert, der die Gymnasiasten entlasten soll (AZ berichtete). Weniger Stoff, weniger Stunden und zwei zusätzliche Streichergebnisse für die Abinote. Gut gemeint, aber nicht effektiv, wie Louisas Mutter findet: „Der Stoff muss endlich konkret eingegrenzt werden, so wie es jetzt ist, trauen sich die Lehrer nicht, etwas wegzulassen und drücken alles durch.“
Lehrer wie Schüler ächzen unter der Stofffülle. „In Chemie sind wir bereits vier Wochen hinter dem Stoff“, erzählt Louisa, „wenn wir so weiter machen, fehlt uns zum Abi die Hälfte“. Zusätzlicher Stress-Faktor: Mündliche und schriftliche Arbeiten wiegen jetzt gleich schwer. Das macht Druck, auch wenn keine Klausuren anstehen.
Greifbar wird der Klassenunterschied zwischen G8- und G9-Schülern im Kurs „Englische Konversation“: „Für uns bedeutet das, entspannt noch eine Stunde am Nachmittag diskutieren“, beschreibt Mike die Atmosphäre, „den G8lern dagegen merkt man den Druck echt an. Die haben danach noch Sport oder sogar eine Klausur.“
Ein G8-Kind für den Minister: Louisas Mutter würde ihre Tochter gerne mal ausleihen.
Drei Dinge wünscht sich Louisa vom Kultusminister: Weniger Stunden in den Kernfächern, größere Wahlmöglichkeiten im Abitur und eine klare Reduktion der Stofffülle. „Ich würde dem Herrn Spaenle gerne mal meine Tochter ausleihen, damit er weiß, wie es ist, mit einem G8-Kind zu leben“ schlägt die Mutter vor.
Abend ist es geworden. Und Louisa ist – einen Tag nach der Matheklausur – schon wieder am Lernen. „Die Arbeit lief nicht so gut, jetzt könnte ich ausgefragt werden.“ Das Hamsterrad dreht sich wieder. Und Louisa wird weiterhecheln – bis zum Abitur.
Ob sie danach gleich studiert und ihren frühen Abschluss nützt, ist derzeit eher fraglich. „Ich will mir auf jeden Fall eine Auszeit nehmen.“
Johanna Jauernig