Nach Corona-Pause: Frühaufsteher tanzen beim Kocherlball in München

München - Das Taxi hält direkt vor meiner Haustüre. Heraus stöckelt eine junge Frau in kurzem Kleid, hält sich an der Autotür fest – und übergibt sich. Dahinter hupen die Lieferwagen.
4.00 Uhr: Es ist Sonntagmorgen in München, und noch gehören die dunklen Straßen den Lieferwagen und betrunkenen Party-Heimkehrern. Für die AZ beginnt nun der Tag. Aus dem Bett zu kommen – nicht so einfach, doch die kühle Morgenluft lässt die Müdigkeit schnell verfliegen. Tracht anziehen und auf in den Englischen Garten!
Kocherlball am Chinesischen Turm: Eine seltsamste und liebenswerte Traditionen
4.30 Uhr: Auf dem Weg schließen sich uns seltsame Gestalten an: Da ist ein Mann in Frack und Zylinder, der einen riesigen Picknickkorb über den leeren Uni-Vorplatz hievt – etwas weiter leert ein Pärchen in Tracht schnell noch sein Bier, bevor es uns folgt.
Alle zieht es zum Chinesischen Turm – wie wir wollen sie zum Kocherlball, eine der seltsamsten und liebenswertesten Traditionen in München.
Wer zum Kocherlball will, muss früh aufstehen – oder die Nacht durchfeiern
Offizieller Beginn ist zwar um 6, aber schon ab 3 Uhr versammeln sich die ersten Tänzer im Biergarten der Familie Haberl. Genau hier, am Chinesischen Turm, tanzten vor fast 150 Jahren Diener, Köchinnen (Kocherl) und Gärtner. Der Ball war so früh, weil die Bediensteten danach wieder arbeiten mussten. Dennoch wurde so ordentlich gefeiert, dass der Ball 1904 "wegen Verstößen gegen die Sittlichkeit" verboten wurde und in Vergessenheit geriet – bis Pankraz Freiherr von Freyberg ihn zur 200-Jahrfeier des Englischen Gartens 1989 wieder ins Leben rief. Damals kamen oft ältere Münchner in historischen Kostümen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Publikum verändert: Gestern tanzten im Englischen Garten rund 10 000. Die meisten: junge Münchner in Tracht.
4.45 Uhr: Noch über eine Stunde bis zum Ball – doch das Warten lohnt sich. Denn wer es bis jetzt in den Englischen Garten schafft, wird Zeuge einer außergewöhnlichen Stimmung. Es ist leise und dunkel im Biergarten. An den Tischen brennen Kerzen, die ersten Leute haben Platz genommen. Um kurz vor fünf steigt die Lautstärke, der Himmel färbt sich blau, bevor das glänzend goldene Sonnenlicht die andächtige Stimmung zerstört. Zeit für den ersten Kaffee.
Närrische Leute sitzen mit ihren Kerzen am Chinesischen Turm
5.15 Uhr: "Es ist schon was Besonderes, wenn man diese närrischen Leute sieht, wie sie da mit ihren Kerzen sitzen", sagt Wiesnwirt und Musiker Peter Reichert und lacht. Er spielt Trompete, ist um 4.45 Uhr aufgestanden, hat "kurz geduscht" und ist zum Chinesischen Turm geradelt. Er freut sich über die vielen jungen Leute: "So geht Tradition weiter!"
5.30 Uhr: "Was ist denn hier los?", fragt uns ein sehr betrunkener Mann in weißer Hose. "Ich komme vom Christopher Street Day", erklärt er und holt sich erst einmal eine Maß Bier – auch wir sind inzwischen zum Alkohol übergegangen. "Das ist toll, jetzt geht die Party hier weiter!" Er ist nicht der einzige, der wirkt, als habe er die Nacht durchgefeiert.
Start: Um 6 Uhr beginnt der Kocherlball
6.00 Uhr: Jetzt geht es los! Auf einer Bühne vor dem Chinesischen Turm begrüßen Tanzmeister Katharina Mayer und Magnus Kaindl die Tänzer. "Herzlich willkommen!" Gekonnt zeigen die beiden jeden Tanz – ob Walzer oder Polka. Und wo es beim Walzer auf der Tanzfläche überraschend professionell zugeht, rumpeln viele Paare bei der Polka noch recht unsanft zusammen.
8.00 Uhr: Es ist hell, es ist laut, es fließt das Bier, die Gäste tragen frische Ausgezogene und Brezn an die Tische, alle tanzen. Die andächtige Morgenstimmung – sie wirkt wie ein Traum.
Münchner Française als Höhepunkt
9.30 Uhr: Der Höhepunkt: Die Münchner Française! Hier müssen sich zwei Paare zusammenfinden, nun sind alle auf der Tanzfläche. Als die Männer (oder Frauen, die in der Überzahl sind und so die Männerrolle tanzen müssen) im letzten Akt die Frauen hochheben, wird gejubelt!
10.00 Uhr: Aus is und gar is und schad is, dass wahr is! Die Stunden am Morgen wirken wie aus einem Traum. Der Ball ist vorüber, die Menge geht heim. Für uns geht es nun in die Redaktion – arbeiten. Ganz wie die Kocherl vor 150 Jahren.