Friedhof: In Ruhe rausgeputzt
München - Florian steht auf Zehenspitzen. Anders würde er an das Kruzifix nicht herankommen. Geradezu andächtig wischt der Fünfjährige mit einem kleinen Schwamm vorsichtig über die Christusfigur.
„Das muss gut aussehen“, sagt er plötzlich: „Ich putze den Jesus für den Opa.“ Florians Vater Johannes streichelt seinem Buben liebevoll übers Haar: „Er wollte unbedingt mitkommen und mithelfen.“
Johannes (43) und der kleine Florian (Namen geändert) sind zwei von vielen, die es jetzt auf den Friedhof zieht. Vor Allerheiligen am 1. November werden traditionsgemäß die Gräber hergerichtet, neu bepflanzt, mit Blumen und Gestecken geschmückt. Alles soll besonders schön sein an Allerheiligen – am Tag, an dem der Toten gedacht wird.
Vor der Arbeit ein Spaziergang mit der Aktentasche
Nicht weniger als 41 700 Grabplätze gibt es auf dem Westfriedhof in Moosach. Münchens zweitgrößter Friedhof liegt noch in leichtem Frühnebel, als um acht Uhr die Tore geöffnet werden. Auf vielen Gräbern flackern Kerzen. Das Einzige, was man hört, ist das Rascheln des Herbstlaubs unter den Füßen.
Verwitterte Grabsteine, verwinkelte Wege und verwelkte Pflanzen sorgen zusätzlich für mystische Stimmung, die manchen auch etwas schrecken mag. „Das ist ein wunderbarer Ort des Friedens, der inneren Einkehr und der Stille“, sagt indes eine junge Frau, die vor der Arbeit mit Aktentasche einen Spaziergang auf dem Westfriedhof macht.
Am kleinen Friedhofssee füttert ein älterer Mann Blässhühner. Ein anderer sitzt gedankenversunken auf einer Bank. Erst gegen neun Uhr muss man nicht mehr lang suchen, um Besucher zu entdecken: Die einen kommen schwer beladen mit allerlei Tüten, die anderen mit Handkarren – voll mit Schaufeln, Erde und Pflanzen.
„Es gehört sich doch, dass das Grab an Allerheiligen ordentlich aussieht“, sagt eine 51-jährige Münchnerin, und ihr Mann nickt: „Mich macht’s immer traurig, wenn ich so verwilderte Gräber sehe, um die sich niemand kümmert.“
In der Tat kann einen leise Wehmut beschleichen, wenn man die vielen älteren Menschen beobachtet, die mit teils großer Mühe und Anstrengung auf dem Friedhof unterwegs sind. Die 83-jährige Inge W. hat ihren Stock in der rechten, ein Blumentöpfchen in der linken Hand: „Das bring ich zu meinem Mann.“
Dieser hat seine letzte Ruhestätte 2009 auf dem Westfriedhof gefunden. Kinder gibt es keine. „Was mit dem Grab passiert, wenn ich bei meinem Mann bin, weiß ich nicht“, sagt Inge W. schulterzuckend.
„Hier fühle ich mich Josef besonders nah“
Gestützt auf ihren Rollator ist Evelin Schopka auf dem Weg zum Urnengrab ihrer Eltern, in dem auch ihr langjähriger Lebensgefährte letztes Jahr beigesetzt wurde. Mindestens einmal in der Woche kommt sie mit U-Bahn und Bus zum Westfriedhof: „Vor Allerheiligen bin ich jetzt öfter hier, denn hier fühle ich mich Josef besonders nah.“
34 Jahre waren die beiden ein Paar – bis Josef im Mai 2014 seinem Krebsleiden erlegen ist. Seine Witwe hat jetzt einmal mehr seine Lieblingsblumen mitgebracht: gelbe und orangefarbene Rosen.
Still und in sich gekehrt sitzt die Münchnerin auf dem Rollator vor dem kleinen Urnengrab. Es wirkt, als hielte sie Zwiesprache mit ihren Lieben. „Ich fühle mich ihnen sehr verbunden“, sagt Evelin Schopka und lächelt: „Allein bin ich nicht.“
Vorbei an den langen Reihen von Urnengräbern führt der Weg zu einem recht versteckt gelegenen Promi-Grab. Die Sängerin Alexandra (berühmt durch Lieder wie „Sehnsucht“ oder „Mein Freund, der Baum“) hat bis heute treue Fans: Pünktlich zu Allerheiligen schmücken einige frische Pflanzen und Rosen ihr Grab.
Drei Frauen mittleren Alters unterhalten sich angeregt über Alexandra und ihren nach wie vor mysteriösen Unfalltod 1969. Am Grab nebenan legt ein Mann ein kleines Gesteck in Herzform zwischen die immergrüne Efeu-Pflanzung.
Von der Friedhofsgärtnerei rattert ein Laster vorbei. „Viele Angehörige wohnen weit weg oder haben einfach keine Zeit, sich ums Grab zu kümmern“, erzählt ein Gärtner: „Andere sind körperlich nicht mehr in der Lage, Säcke mit Erde oder Gießkannen zu schleppen und geben deshalb die Grabpflege in professionelle Hände.“
Doch das kostet natürlich Geld, viel Geld, das oft nicht vorhanden ist. „Schön wär’s, wenn wir uns den Gärtner leisten könnten“, sagt Ewald D. (76), der das Familiengrab mit seinem Bruder winterfest bepflanzt: „Unsere Rente reicht für keinen Gärtner, doch wir sind zu zweit. Ich kann mich schlecht bücken. Mein Bruder soll nicht schwer tragen. Das gleicht sich aus. Zusammen bekommen wir das gut hin.“
Franz Hofstetter ist körperlich fit, doch er ist froh, am Friedhof nicht allein zu sein. „Die Eltern fehlen immer noch“, sagt der 65-jährige Goldschmied und drückt seine Lebensgefährtin Christine an sich: „Immer wieder mal will ich meine Eltern etwas fragen, doch ich bekomme keine Antwort mehr.“
Dreimal im Jahr wird die Grabstätte neu gestaltet, zu Allerheiligen traditionell mit mehrfarbiger Erika. Vor dem Friedhof hat Franz Hofstetter noch ein großes Gesteck gekauft. „Es ist mir wichtig, dass das Grab schön ist“, sagt er: „Früher habe ich mich um meine Eltern gekümmert, jetzt kann ich für sie nur noch das tun.“
Der Fünfjährige entfernt jedes Blättchen vom Grab
Vater Johannes und Sohn Florian sind am Grab inzwischen beim Gießen. Während der Papa fleißig gejätet, geschnitten und gepflanzt hat, hat der kleine Florian nicht nur die Jesus-Figur gewienert. Der Fünfjährige hat auch sorgfältig jedes Blättchen rund um Opas Grab entfernt.
Jetzt beobachtet er begeistert herumflitzende Eichhörnchen. Johannes schaut seinem Sohn lächelnd zu und sagt dann: „Auf meinem Schreibtisch steht das Sterbebildchen meines Vaters, außerdem sein altes Kommunionbild. Auf diesem sieht er genau so aus wie Florian heute.“
Nach einem Tag auf dem Friedhof ist es verinnerlicht: Der Tod ist ein Teil des Lebens.
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