Freiwillige bei den European Championships: Am Rand, aber mittendrin

München - Türkis ist Trumpf in diesen Tagen des neuen deutschen Sommermärchens. Man sieht es wirklich überall. Es ist die markante Farbe von T-Shirts und Mützen, die aus dem größten Menschengewühl im Olympiapark, am Odeonsplatz, draußen in Riem und Sendling, in Oberschleißheim, in Fürstenfeldbruck, Landsberg und Murnau sofort ins Auge springen.
Das Türkis wird von den Volunteers der European Championships getragen, auffällig, unverkennbar und allgegenwärtig. Die Freiwilligen sperren beim Radrennen die Straßen ab, beim Klettern sichern sie die Athleten der Wand, sie reichen den Marathonläufern nasse Schwämme und Eisbeutel und zeigen Hunderttausenden von Zuschauern den richtigen Weg zu den Wettkämpfen. Ohne diese freiwilligen Helfer könnte das Riesenereignis gar nicht stattfinden.
6.000 Menschen helfen, manche sogar vom Rollstuhl aus
Die ersten Volunteers stehen schon am Ausgang der U-Bahn im Münchner Olympiapark, dort, wo sich wahre Menschenmassen in Richtung Olympiastadion in Bewegung setzen. Und wo gleich viele Fragen gestellt werden: "Wo bitte geht's zum Turnen? Wo gibt's was zu Essen? Und was kann ich mit meinen Kindern hier erleben?"
Eine freiwillige Helferin steht an der großen Übersichtstafel, ein anderer sitzt mit Megafon auf einem Hochstuhl und dirigiert die Zuschauer "Turnen bitte rechts, Triathlon bitte links!" und eine Dritte organisiert für eine gehbehinderte Frau ein elektrisches Golfwägelchen für den Transport zum Stadion.
Etwa 6.000 dieser Helfer sind im Einsatz. Sie kommen aus allen Ecken der Welt, ihre Motivation ist eindeutig: "Ich möchte hier unbedingt dabei sein, wenn genau 50 Jahre nach den Spielen von '72 wieder Sportgeschichte geschrieben wird," erzählt eine Frau aus dem Schwäbischen, "in der Olympiahalle, unter diesem fantastisch-schönen Zeltdach!"

Ein Mann im fortgeschrittenen Alter berichtet beim alkoholfreien Bier nach acht Stunden Schicht an der Olympia- Ruderregattastrecke verzückt, "ich treffe Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern, mit den verschiedensten Berufen, das ist einfach toll!"
Für etliche Volunteers ist es der zehnte oder gar 20. Einsatz als Helfer, sie tingeln regelrecht von Europameisterschaft zur Fußball-WM und weiter zu Olympia. "Dabei sein ist alles, es macht auch ein bisschen süchtig," sagt eine gestandene Endvierzigerin und grinst.
Viele sind aber auch das erste Mal als Freiwillige dabei, sie erzählen sich gegenseitig beinahe staunend von ihren Erlebnissen "Hast du auch Gänsehaut gehabt, als die Lückenkemper ins Ziel gestürzt ist? Wahnsinn, oder?!" oder tauschen ihre Erfahrungen über die unterschiedlichen Nachtquartiere aus ("Kein Auge zugemacht in der Turnhalle").
Biergarten-Tipps und Wege-Erklärungen
Man kommt schnell miteinander ins Gespräch, gibt der münchen- unerfahrenen Irin aus Cork Tipps für den schönsten Biergarten, rätselt darüber, was der Junge aus Derby in seinem unverständlichen Dialekt eigentlich sagen will, und ist beeindruckt vom bärtigen Rentner in seinem elektrischen Rollstuhl, der mitten im Auge des Spektakels auf dem Hans-Jochen-Vogel-Platz am Olympiasee ganz entspannt bleibt: "Vor ein paar Jahren hab ich nach einem schweren Unfall gedacht, es ist zu Ende mit mir. Aber jetzt lebe ich immer noch und ich möchte deshalb den Leuten hier etwas geben." Geduldig erklärt er, wann und wo welche Sportart gerade läuft, wo sich barrierefreie Toiletten befinden und welche Band am See den lauen Sommerabend rockt.
An der Olympiahalle Eingang West steht Nina und hebt einen riesigen Zeigefinger: "Hier geht's leider nicht rein, Sie müssen bitte den Eingang Ost benutzen," erklärt sie in Endlosschleife.

Sie arbeitet während der "European Championships" ganz normal im Büro, hat aber in jeder freien Minute eine Schicht hier im Olympiapark: "Das macht einfach Spaß, mittendrin im Geschehen zu sein, dieses Gewusel!"
Von den Wettkämpfen hört sie während ihres Einsatzes nur das kollektive "Aaah" und "Oooh", die Schreie der Zuschauer, ihren Beifall oder das entsetzte Stöhnen. Also geht's nach Schichtende zu den Bahnradfahrern nach Riem, zum Tischtennis raus nach Sendling oder zum Zielsprint der Radler auf der Ludwigstraße.
Beim Beachvolleyball ist Hitzefestigkeit gefragt.
Beim Einsatz auf dem Centre Court des Beachvolleyballs auf dem Königsplatz ist von den Volunteers Hitzefestigkeit gefragt. Die Sonne knallt erbarmungslos in die mit feinstem Sand gefüllte Arena, das Volk lässt sich vom Stadionsprecher in einen Rausch hineinpeitschen. Unten rennen die Volunteers über den heißen Sand und ebnen ihn wieder ein.
Ähnlich ist die Stimmung nebenan beim Klettern. Nur gibt's dort eine "role" (so heißt die Aufgabe im Volunteers Englisch), bei der die Freiwilligen buchstäblich Verantwortung übernehmen: sie sichern die Kletterer per Seil, wieder und wieder geht's hinauf in die künstliche Wand, blitzschnell müssen sie zupacken, wenn einer herunterfällt.
Beim Tischtennis in der Rudi-Sedlmayer-Halle (ebenfalls Baujahr 1972) geht's entspannter zu, dort eskortieren die "Türkisen" die Sportler in und aus der Halle, sie müssen darauf achten, dass Timo Boll und Dimitri Ovchtarov den vorgeschriebenen Abstecher zu den Interviews in der "Mixed Zone" machen, wo die Journalisten alles über ihre Befindlichkeit wissen möchten.
Selfies machen mit den Stars ist verboten
Aber Obacht: Selfies machen mit den Stars des europäischen Sports ist streng verboten, auch Autogramme holen ist tabu. Mädchen und Männer für alles anderenorts haben als Volunteers die Aufgabe, Kommentatorenplätze sauber zu halten, Zugangsberechtigungen zu checken, den ausgepumpten Sportlern sofort frisches Wasser zu reichen und die Klamotten hinterherzutragen, VIPs zu betreuen, Wege frei zu machen für den Athletentransport zwischen Aufwärmplatz und Stadion oder den Zuschauern zu erklären, warum die Medaillen beim Gehen am Odeonsplatz und nicht im Olympiapark verliehen werden.
Und weil diese ECS völlig papierlos sind, ist eine der wichtigsten Volunteer-Aufgaben, die Besucher auf ein kleines schwarz-weiß gemustertes Quadrat hinzuweisen: ohne QR-Code findet man als Zu-schauer kaum den Zugang zum Sommermärchen 2022.