Fraktionschefs der Münchner SPD: Reiche sollen für Arme mitzahlen

München - AZ-Interview mit Christian Müller und Anne Hübner. Der 53-jährige Sozialarbeiter und die 41-jährige Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt bilden die neue Doppelspitze der Fraktion SPD-Volt im Rathaus.
Herr Müller, wie enttäuscht sind Sie, dass Frau Dietl Dritte Bürgermeisterin geworden ist und nicht Sie?
CHRISTIAN MÜLLER: Überhaupt nicht. Zum einen kann ich mir meine Rolle als Fraktionschef persönlich besser vorstellen. Zum anderen ist es mir wichtig, dass wir den Geschlechterproporz, den wir vereinbart haben, einhalten.
Sie sind jetzt von der Vize- zur Fraktionschefin aufgestiegen, Frau Hübner. Ist da bei Ihnen ein Traum wahrgeworden?
ANNE HÜBNER: Ich habe mich nicht drum gerissen. Ich hätte mir auch gut vorstellen können, dass der Christian das allein weitermacht.
Neue Doppelspitze: Flachere Hierarchien
Woran liegt’s?
HÜBNER: Erst in der Verantwortung merkt man, wie komplex diese Aufgabe ist. Jetzt ist mir bewusst geworden, wie schwer Christian Müller und Verena Dietl es gehabt haben müssen, als sie im September 2019 plötzlich Fraktionschefs geworden sind, als Alexander Reissl zur CSU gewechselt ist. Sie haben das echt gut gemacht.
Was hätten Sie da rückblickend besser gemacht, Herr Müller?
MÜLLER: Ich glaube, dass wir es nicht anders hätten machen können.
Was ist Ihre Führungsstrategie als Doppelspitze?
HÜBNER: Jeder in der Fraktion hat die wichtige Aufgabe, mitzugestalten, indem er seine individuellen Fähigkeiten mit einbringt. Das ist uns ein großes Anliegen.
Also eher flachere Hierarchien als damals bei Reissl?
MÜLLER und HÜBNER: (gleichzeitig) Ja.
HÜBNER: Früher hat es ewig gedauert, bis jemand in der Vollversammlung sprechen durfte. Jetzt ist es so, dass die neuen Fraktionsmitglieder gleich in der Verantwortung sind. Und nicht erst zehn Jahre in der Fraktion sein müssen.
"Mieterschutz ist eines unserer wichtigsten Themen"
Die Corona-Krise zwingt auch den Stadtrat zum Sparen. Das Vorkaufsrecht etwa, soll nur noch in Ausnahmefällen ausgeübt werden, schlägt der Kämmerer in seinem Sparplan für die Stadt vor. Wie ist das mit dem Koalitionsvertrag vereinbar, in dem steht, man wolle das Vorkaufsrecht "konsequent" ausüben?
MÜLLER: Den Beschlussvorschlag des Kämmerers haben wir mitgetragen, weil er formal nicht zu beanstanden war. Es ist aber weiterhin auch richtig, dass wir uns konsequent mit jedem einzelnen Vorkaufsrecht beschäftigen werden.
HÜBNER: In der Zukunft wird es darauf ankommen, sich jedes einzelne Objekt genau anzuschauen und wer darin wohnt. Die Mieter, die wir schützen müssen, werden wir auch weiterhin schützen. Bis zur Leistungsgrenze des städtischen Haushaltes. Da kann der Kämmerer seine Position schildern. Trotzdem sagen wir: Mieterschutz ist eines unserer wichtigsten Themen.
Von der Opposition hört man in letzter Zeit immer wieder die Vorwürfe, Grün-Rot würde die Mittelschicht aus der Stadt vergraulen.
HÜBNER: Ich halte das für einen totalen Schmarrn. Denn eine der größten Errungenschaften der SPD in der alten Amtszeit ist die Abschaffung der Kitagebühren. Das entlastet vor allem die Familien mit mittlerem Einkommen. Denn die mit niedrigem haben vorher schon nichts gezahlt und die Entlastung beträgt für viele Familien gerade mit mehreren Kindern oft 500 Euro und mehr im Monat.
MÜLLER: Die CSU und FDP wollen das exklusive München Modell Eigentum behalten, wo man selber oft mehrere 100.000 Euro Eigenkapital mitbringen muss, um dann nochmal mehrere 100.000 Euro von der Stadt spendiert zu bekommen. Um die Mittelschicht zu schützen, haben wir dieses Modell zugunsten des verstärkten Mietwohnungsbaus abgeschafft.
Autofreie Dienerstraße - Mehr Platz für Umweltfreundlichkeit
Die Planungen für die Autotunnel in der Schleißheimer Straße und der Tegernseer Landstraße sollen komplett eingestellt werden. Zum Ärgernis der CSU.
MÜLLER: Wir erleben jetzt schon eins: Die neuen Tunnel, die wir in Bogenhausen und am Luise-Kiesselbach-Platz gebaut haben, dienen nur dem einen: Sie verlagern den Stau komplett von oben nach unten.
HÜBNER: Es geht uns auch darum, dass die Menschen, die umweltfreundlich in der Stadt unterwegs sind, einfach mehr Platz bekommen.
Der Oberbürgermeister wird aber mit seinem Dienstwagen noch durch die Dienerstraße fahren dürfen, wenn die für andere Münchner autofrei ist. Ist das gerecht?
MÜLLER: Auch Firmen, die in der Sendlinger Straße Anlieger sind, werden noch zu ihrem Geschäft, ihrem Betrieb oder ihrer Praxis mit dem Auto fahren können, wenn sie dort einen Stellplatz haben. Der Dienstwagen ist ein Arbeitsmittel. Für den OB und die Bürgermeisterinnen sind ihre Autos notwendig, damit sie ihren Aufgaben überhaupt gerecht werden können.
"Manchem Single in Schwabing tut nicht weh, mehr zu zahlen"
Auch Ihre Sicherheitspolitik kritisiert die CSU scharf. Wie groß war da der Grüne Einfluss, etwa bei der Abschaffung des Alkoholverbots am Hauptbahnhof?
MÜLLER: Das Alkoholverbot sollte ohnehin im kommenden Jahr überprüft werden. Und beim Kommunalen Außendienst ändert sich das Profil dahingehend, dass er verstärkt auch Sicherheitsdienstleistungen für städtische Gebäude übernehmen wird.
Welche Projekte für die Stadt möchten Sie als erstes angehen, wenn neben Corona wieder mehr Raum ist?
HÜBNER: Uns ist ganz besonders wichtig, dass alle Maßnahmen, die wir angehen möchten, um mehr Umwelt- und Klimaschutz in der Stadt zu ermöglichen, nicht zulasten der sozial Schwächeren gehen.
Wie soll das funktionieren?
HÜBNER: Jeder sollte anhand der seiner individuellen Leistungskraft das Mehr an Klimaschutz mitfinanzieren. Dem Single in Schwabing, der 100.000 Euro im Jahr verdient, tut es nicht weh, für bestimmte Leistungen künftig 20 oder 30 Euro mehr zu zahlen. Und damit den Menschen zu helfen, denen schon zwei oder drei Euro mehr weh tun würden.
Das werden Besserverdiener nicht unbedingt gerecht finden.
HÜBNER: Ja, aber oft sind das auch die, die den unökologischeren Lebensstil führen. Die Alleinerziehende in Giesing mit zwei Kindern kann sich keine drei Fernreisen im Jahr leisten. Ihre CO2-Bilanz ist deutlich besser. Biofleisch aber ist für sie unerschwinglich. Es ist unsere Aufgabe, hier für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
"Es ist wichtig, dass die Altenzentren bald wieder öffnen können"
Was ist Ihnen aktuell wichtig? Mit Blick auf die Corona-Krise?
MÜLLER: Zum einen muss der Regelbetrieb für Kitas und Schulen wieder anlaufen. Bis hin zur offenen Jugendarbeit. Das gilt auch für die Leistungen für Senioren. Auch die müssen bald wieder komplett an den Start gehen können. Wir wollen verhindern, dass Menschen zunehmend vereinsamen. Wer vorher einsam war, ist es in der aktuellen Situation noch mehr.
Was wollen Sie da unternehmen?
HÜBNER: In den letzten Wochen haben die Alten- und Service-Zentren regelmäßig ihre Besucher abtelefoniert, haben Einkäufe erledigt, sind zur Haustür gegangen. Trotzdem ist es wichtig, dass die Einrichtungen bald wieder öffnen. Genauso wie die Pflegeheime. Denn aktuell werden dort kaum Senioren aufgenommen. Viele Angehörige von Pflegebedürftigen sind mit der Situation überfordert. Für die müssen wir Wege finden. Etwa, indem die Einrichtungen bald wieder öffnen und auch Heimbesuche und stationäre Aufnahmen wieder möglich werden. Ich sehe es mit als unsere wesentliche Aufgabe der SPD, sich um die zu kümmern, die nicht lautstark ihre Interessen vertreten können.
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