Flugblatt-Affäre: Hubert Aiwanger entschuldigt sich – und geht in den Angriffsmodus über

München – Die Aufregung im politischen München war groß, als am späten Donnerstagnachmittag eine "Erklärung" von Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) angekündigt wurde. Schon wurde über einen Rücktritt des Vizeregierungschefs wegen der Flugblatt-Affäre spekuliert, doch es kam anders.
In einem nur wenige Minuten dauernden Statement wies Aiwanger erneut die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück, zeigte sich aber auch etwas einsichtig. Sollte er als Jugendlicher vor 36 Jahren "Fehler" gemacht haben, mit denen er die Opfer des NS-Regimes beleidigt habe, so distanziere er sich davon in aller Form und entschuldige sich dafür.
Antisemitisches Flugblatt: Hubert Aiwanger beteuert weiter, dass es nicht von ihm stammt
Es blieb aber dabei: Das zynische Flugblatt, in dem "Preise" wie ein "Flug durch den Schornstein in Auschwitz" ausgelobt wurden, stamme nicht von ihm. Er distanziere sich in aller Form von dem "ekelhaften Inhalt". Er habe keine Hitler-Reden vor dem Spiegel einstudiert und könne sich auch nicht erinnern, den Hitler-Gruß gezeigt oder Witze in Zusammenhang mit dem Holocaust gemacht zu haben.

Da allerdings gab es eine Einschränkung: Sollte das doch einmal passiert sein, entschuldige er sich bei den Opfern des NS-Regimes. Das Bild, das über ihn in der Öffentlichkeit entstanden sei, zeige nicht ihn: "Das bin nicht ich. Das ist nicht Hubert Aiwanger."
Wegen Hubert Aiwanger: Bayerischer Landtag hält Sondersitzung ab
Am Donnerstag war es eng geworden für den bayerischen Vizeministerpräsidenten. Ein Alarmzeichen musste für ihn sein, dass die "Bild-Zeitung" seinen Rücktritt forderte: "Er ist seines Amtes nicht würdig."
Aiwanger selbst ließ einen Teil seiner Termine und eine Interview-Verabredung streichen. Als eine Art "Deadline" für die Affäre um seine angeblichen rechtsextremistischen Umtriebe an seinem früheren Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg gilt der kommende Donnerstag.
An diesem Tag nämlich tritt der Zwischenausschuss des Bayerischen Landtags zusammen. Die Sondersitzung mitten in den Parlamentsferien und einen Monat vor der Landtagswahl am 8. Oktober hatten Grüne, SPD und FDP durchgesetzt. Einziger Tagesordnungspunkt: das Verhalten des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Regierungschefs Aiwanger (siehe dazu auch Seite 10).
Der Zwischenausschuss ist ein aus 51 Abgeordneten bestehendes selbstständiges Verfassungsorgan, das beispielsweise auch die Zustimmung zur Entlassung eines Ministers erteilen kann. Wegen Bauarbeiten im Plenarsaal des Maximilianeums wird in einem anderen Saal getagt.
Anschuldigungen spitzen sich zu: Aiwanger soll Hitlers "Mein Kampf" in der Schultasche gehabt haben
Die Lage für den 52-jährigen Aiwanger hatte sich in den letzten Tagen durch immer neue Aussagen ehemaliger Mitschüler immer schwieriger gestaltet. Zum Teil traten die Zeugen aus der Anonymität hervor. Einer gab sogar eine eidesstattliche Versicherung ab. In seiner Gymnasialzeit soll der heutige Minister danach ein ausgesprochener Hitler-Fan gewesen sein und weder vor Hitler-Gruß noch vor Juden-Witzen sogar bei einer Klassenfahrt zu einer KZ-Gedenkstätte zurückgeschreckt sein.
Wenigstens einmal habe er auch ein Exemplar von Hitlers "Mein Kampf" mit sich geführt. "Es wird immer absurder", schrieb Aiwanger am Donnerstagvormittag auf der Plattform "X" (früher Twitter). "Eine andere Person behauptet, ich hätte 'Mein Kampf' in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?"
Markus Söder erstellte Fragenkatalog: Hubert Aiwanger lässt mit Antworten auf sich warten
Währenddessen werden die Antworten Aiwangers auf einen Katalog mit 25 Fragen, die Ministerpräsident Markus Söder (CSU) seinem Vize am vergangenen Montag aufgegeben hatte, mit wachsender Spannung erwartet. Aiwanger sagte am Donnerstag erneut eine "zeitnahe" Beantwortung zu.
Noch bevor von weiteren Nazi-affinen Verhaltensweisen des jungen Aiwanger etwas bekannt war, hatte Söder gemahnt, es dürfe jetzt "nix weiter dazu kommen". Stattdessen komme "stündlich immer mehr zu Tage, das seine Geschichte unglaubwürdiger" mache, so der SPD-Fraktionsvorsitzende Florian von Brunn: "Markus Söder hat gesagt, es dürfe nichts mehr dazukommen. Weil er dennoch nicht handelt, handeln wir jetzt und beantragen eine Sondersitzung des Landtags."
Hubert Aiwanger bleibt im Amt – Freie Wähler wollen Koalition in Bayern fortsetzen
Von Aiwangers Freien Wählern war am Mittwochabend zu hören, dass sowohl deren Landesvorstand wie die Fraktion als auch die Kabinettsmitglieder "geschlossen" hinter dem Regierungsvize und Parteichef stehen. Der Landesvorstand wolle eine "bürgerliche Koalition" in Bayern fortsetzen. Dies sei seitens der Freien Wähler "nur mit Hubert Aiwanger" möglich, hieß es in einer Erklärung. Freie-Wähler-Generalsekretärin Susann Enders bezeichnete Rücktrittsforderungen als "lachhaft".
Nach Aiwangers Erklärung teilte der Fraktionsvorsitzende Florian Streibl mit: "Es ist wichtig, dass sich der Staatsminister bei den Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen an der wertvollen Erinnerungsarbeit Beteiligten für die in den vergangenen Tagen entstandenen Irritationen entschuldigt hat." Ebenso bedeutsam sei, dass sich Aiwanger in jeder Form vom menschenverachtenden Inhalt des Pamphlets distanziert habe. "Wir sind froh, dass Hubert Aiwanger heute diesen Schritt aufrichtiger Reue und der Entschuldigung gegangen ist."
Derweil hängt am Waffengeschäft "Waffen & Ausrüstungen" von Bruder Helmut Aiwanger in Rottenburg an der Laber am Donnerstag weiter der Zettel mit der "Buchempfehlung: Heinrich Böll, 1974: Die verlorene Ehre der Katharina Blum" an der Scheibe, was wohl heißen sollte, dass die Aiwangers unschuldige Opfer der Sensationsgier der Presse geworden seien. Ergänzt wurde der Hinweis mit der Bemerkung "Keine Sorge, nur Heinrich Bölls Prosa endet dramatisch".
Ehemaliger Lehrer vermutet Hubert Aiwanger als Urheber des Hetzflugblatts
Wie kam es dazu, dass sechs Wochen vor der Wahl massive Vorwürfe gegen den stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Freie-Wähler-Spitzenkandidaten Hubert Aiwanger losgetreten wurden? Allmählich lichtet sich der Nebel und zum Vorschein kommt ein pensionierter Deutschlehrer, dem schon der damalige Gymnasiast Hubert ein rechter Dorn im Auge gewesen sein muss.
Seit Jahren, heißt es aus dessen niederbayerischer Heimat, sei der Pädagoge schon mit einem antisemitisch-neonazistischen Hetzflugblatt unterwegs gewesen, als dessen Urheber er offenbar bis heute den späteren Minister und Vizeregierungschef vermutet.
35 Jahre schwieg der Lehrer – bis Hubert Aiwanger seine Rede in Erding hielt
Doch irgendwie mochte sich offenbar jahrzehntelang keiner so recht für die Story interessieren – bis der zu Amt und Würden gekommene Hubert Aiwanger im Juni in Erding seine berühmt-berüchtigte Rede hielt und die schweigende Mehrheit aufforderte, sich die Demokratie aus Berlin zurückzuholen.
"Es ist an der Zeit, dass wir diese braune Socke jetzt stürzen", soll der Lehrer nach Aussagen eines seiner früheren Schüler daraufhin gesagt haben. Im Gespräch mit der AZ bestätigte der heute 52-jährige Roman S., dass der seit etwa zehn Jahren pensionierte Lehrer ihn gegen Aiwanger "instrumentalisieren" und ihn zu einer Erklärung drängen wollte, die er aber so nicht habe abgeben können.
Der Lehrer will die "braune Socke Aiwanger stürzen"
Der Lehrer habe schon geraume Zeit versucht, "belastende Fakten über Hubert Aiwanger zusammenzutragen", sagt S. dem Magazin "Focus". Insofern liegt der Verdacht nahe, dass sich die "Süddeutsche Zeitung", die den Stein gegen den Freie-Wähler-Chef am vergangenen Wochenende ins Rollen brachte, auf Informationen des Lehrers stützte.
Das Flugblatt, das inzwischen deutschlandweit die Runde machte, soll auf Schultoiletten des Burkhart-Gymnasiums in Mallersberg-Pfaffenberg gefunden worden sein. Die "Passauer Neue Presse" hat nach eigenen Angaben den Lehrer inzwischen ausfindig gemacht. Sehr ergiebig war der Kontakt mit ihm nach Angaben des Blattes aber wohl nicht. Der Mann sei "in der SPD aktiv". Ob er das Flugblatt an die "SZ" gegeben hat, sagte der Lehrer offenbar nicht. Nur so viel: "Das Lügengebäude der Aiwangers wird einstürzen."