Flüchtlingssprecher: "Zuhause würde ich keine Woche überleben"

Adeel ist Sprecher der Flüchtlinge, die in München protestieren. Normalerweise spricht er über Politik und die Forderungen der Asylbewerber. Hier erfährt man erstmals ein bisschen über sein Privatleben.
von  Natalie Kettinger
Adeel beim Gespräch mit der AZ. In sein Heimatland kann er nicht zurück, sagt er: „Da würde ich keine Woche überleben.“
Adeel beim Gespräch mit der AZ. In sein Heimatland kann er nicht zurück, sagt er: „Da würde ich keine Woche überleben.“ © Daniel von Loeper/AZ

München – Vor der bunten Häuserfassade der Landshuter Innenstadt lacht ein junger Mann in die Kamera: orangefarbenes T-Shirt, Sonnenbrille, rundes Gesicht, leichter Bauchansatz. „Das bin ich vor einem Jahr“, sagt Adeel und starrt lange auf das Display seines Handys. „Hätten Sie mich erkannt?“ Nein.

Adeel gehört zu den Sprechern der Flüchtlinge, die vor der Matthäuskirche in den Hungerstreik getreten sind. Es war das dritte Mal, dass der 25-Jährige die Nahrungsaufnahme verweigert hat, um auf die Missstände im deutschen Asylrecht aufmerksam zu machen. Der Protest hat ihn gezeichnet. Er ist schmal geworden und hat gesundheitliche Probleme.

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Aus welchem Land er stammt, verrät Adeel nicht. „Es geht hier nicht um Individuen oder Nationalitäten. Es geht um mehr Rechte für alle Flüchtlinge in Deutschland.“

Zwei Sätze, die er wie ein Mantra wiederholt. Er wolle lieber über Politik sprechen als über Privates, sagt der Aktivist – und gibt dann doch vereinzelte Details preis: Einer seiner Brüder sei entführt worden. Er selbst habe große Schwierigkeiten mit Extremisten gehabt. Deshalb habe er sein Heimatland verlassen müssen. „Ich habe mir nicht ausgesucht, Flüchtling zu sein.“

„Wir haben doch zu zweit schon keinen Platz im Zimmer“

Seit September 2013 lebt Adeel in Deutschland. Seine aktuelle Adresse ist die einer Gemeinschaftsunterkunft in der Nähe von Köln. Er teilt sich ein winziges Zimmer mit einem Mann aus Indien. Die beiden haben sich nichts zu sagen. „Es gibt in meinem Lager nur einen einzigen Menschen aus meinem Heimatland. Aber der ist nie da“, sagt Adeel.

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Als der Hausmeister einen dritten Fremden in dem kleinen Zimmer unterbringen will, stapelt er dessen Bett einfach auf das von Adeel. „Als er wieder weg war, habe ich das Bett einfach auf den Gang gestellt. Wir haben doch zu zweit schon keinen Platz.“ Später entschuldigt er sich beim Hausmeister. Über das dritte Bett wird nicht mehr gesprochen.

Am 11. Dezember 2013 begeht ein Kindheitsfreund von Adeel einen Selbstmordversuch. Auch er war geflohen und lebt zu diesem Zeitpunkt in Berlin. „Er hatte einen Hungerstreik hinter sich. Er sollte abgeschoben werden. Es ging ihm sehr schlecht.“

Um ihn zu besuchen, beantragt Adeel eine Reiseerlaubnis. Denn die Residenzpflicht hindert Asylbewerber daran, sich frei in der Bundesrepublik zu bewegen. Adeel muss eigentlich in Nordrhein-Westfalen bleiben, darf nun aber für zehn Tage nach Berlin.

Dort trifft er erstmals auf Flüchtlinge, die mit politischen Aktionen für mehr Rechte kämpfen. Die Gruppe war am Brandenburger Tor in einen Hungerstreik getreten und hatten später von der Kirche Wohnungen zur Verfügung gestellt bekommen. „Endlich hatte ich Menschen gefunden, mit denen ich sprechen konnte“, sagt Adeel. Flüchtlinge aus ganz Deutschland, die sich in einem lockeren Netzwerk mit dem Namen „Refugee Struggle for Freedom“ zusammengeschlossen haben. Im Organisations-Team seien sie zu zehnt, sagt Adeel. Bei wichtigen Entscheidungen oft deutlich mehr.

Über Silvester bekommt er noch einmal die Erlaubnis, in die Hauptstadt zu reisen. Dann ist vorerst Schluss. „Ich saß einen Monat lang in meinem Lager, während es meinem Freund wieder schlechter ging. Er hatte starke Depression – und ich konnte nicht weg. Ich war noch nie so verzweifelt, noch nie so hilflos.“

Im März 2014 liegt Adeel selbst im Krankenhaus. „Ich hatte Tumore in beiden Armen“, erzählt er, schiebt den Strickpulli zurück und deutet auf die Narben. Kurz nach der OP erreicht ihn ein Anruf. „Wir sind in Dingolfing in einen Hungerstreik getreten“, sagen seine Freunde. „Das war nicht abgesprochen“, sagt Adeel, verlässt das Krankenhaus und fährt nach Dingolfing. Noch bevor die OP-Fäden gezogen sind, verweigert auch er für vier Tage das Essen.

„Ich kann alles reparieren: Computer, Fernseher, Telefone“

„Wir waren am Anfang nur zu acht. Ich konnte ganz gut reden und unsere Probleme ausdrücken. Das war der Beginn meiner politischen Karriere in Deutschland.“ Adeel wird einer der „Refugee“-Sprecher und verantwortlich für die Homepage der Gruppe. Er habe schon in seinem Heimatland und auf der Flucht als IT-Spezialist gearbeitet, erzählt er stolz. „Ich kann alles reparieren: Computer, Fernseher, Mobiltelefone, Wassertanks.“ Er lacht.

Die Gruppe kämpft gegen die Residenzpflicht, die Dauerunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, den erschwerten Zugang zu Bildung und zu Arbeitsmöglichkeiten.

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Denn zeigen, was er beruflich drauf hat, darf er in Deutschland nicht. Zumal er mittlerweile mehrmals wegen Protest-Aktionen gegen die Residenzpflicht verstoßen hat – und erwischt wurde. Denn Adeel war bei der Besetzung des Bundesamtes für Migration in Nürnberg dabei, bei der Besetzung des Fernsehturms in Berlin und einem weiteren Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor. Die Konsequenzen: Geldstrafen und das Verbot, den Landkreis zu verlassen, dem er zugewiesen wurde. Nach drei Monaten wird der zugestandene Bewegungsradius immerhin auf ganz NRW ausgeweitet.

Im Oktober melden Adeel und seine Freunde einen Infostand am Sendlinger Tor an. „Die Situation war völlig skurril“, erzählt er. „Wir hatten die Erlaubnis bei der Stadt online beantragt und auch bekommen. Dann kam die Polizei und hat uns Verstoß gegen die Residenzpflicht vorgeworfen. Unsere Anwesenheit war gleichzeitig genehmigt und untersagt.“

Am 13. Oktober ruft der Hausmeister seiner Unterkunft Adeel auf dem Handy an. Er habe Post vom Bundesamt für Migration, das über die Asylanträge entscheidet. „Ich war so aufgeregt, ich musste sofort zurück.“ Er träumt bereits von einem Leben in Freiheit – und wird bitter enttäuscht: „Mein Antrag wurde abgelehnt.“

„Ich habe eine große Familie, die ich sehr liebe“

Die Diakonie vermittelt dem jungen Flüchtling einen Anwalt, der ihm verspricht, Einspruch einzulegen. Adeel fährt zurück nach München – und checkt täglich seine E-Mails während er am Sendlinger Tor für ein besseres Leben hungert. Sein Fall wird demnächst ein Gericht beschäftigen. Und dann?

„Ich habe eine große Familie, die ich sehr liebe. Wir sind zu Hause 16 Personen“, sagt er lächelnd. Zurück in sein Heimatland könne er trotzdem nicht. „Ich würde dort keine Woche überleben.“

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