Flüchtlings-Ziel München: Ein Jahr danach

Sie sind verzweifelt, übermüdet, entkräftet – und werden von lächelnden Menschen mit Getränken, Essen und Kuscheltieren empfangen: Vor einem Jahr stranden täglich Tausende Geflüchtete am Hauptbahnhof – und die Menschen in der „Weltstadt mit Herz“ machen dieser alle Ehre. Was Anfang September 2015 in München geschieht, geht als „Willkommenskultur“ in die Geschichte ein.
Marina Lessig ist mittendrin. Die heute 27-Jährige ist im Vorstand des Kreisjugendrings, der die Koordination der ehrenamtlichen Helfer übernommen hat. Etwa 4500 Freiwillige haben sich registrieren lassen, um die Asylsuchenden in Empfang zu nehmen. Sie arbeiten in Vier-Stunden-Schichten am Bahnhof und später auch in den Notunterkünften an Denis- und Richelstraße sowie auf dem Messegelände. „Wir hatten bis zu 1000 Leute pro Tag im Einsatz“, sagt Marina Lessig.
Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. „Da waren Obdachlose dabei und Universitätsprofessoren, Hausfrauen und Studenten.“ Marina Lessing erzählt von einer Doktorandin der Sinologie, die sich am Hauptbahnhof in einen Klempnergesellen verliebt hat – und von ihrem eigenen neuen Lebensgefährten, einem Unternehmensberater. „Im ,normalen Leben wären wir uns vermutlich nie begegnet. Aber in diesem Moment wurde deutlich, dass wir – Flüchtlinge und Helfer – alle Menschen sind, gleich an Wert.“
Von offizieller Seite war zunächst niemand zu erreichen
Doch es gibt auch ärgerliche Situationen. Als Ungarn freie Fahrt gewährt und am ersten September-Wochenende 20 000 Asylsuchende in München landen, ist von offizieller Seite niemand zu erreichen, weil die Büros nicht besetzt sind. „Niemand konnte für Wasser und Care-Pakete sorgen.“ Man sei einfach nicht vorbereitet gewesen. „Dabei hätte jeder, der für ein Fünferl geradeaus denken kann, damit rechnen müssen, dass all das nicht auf Dauer gut geht.“ Lessig meint den Syrien-Konflikt, der seit 2011 schwelt, und die Zehntausende Flüchtlinge, die im Frühjahr 2015 in Griechenland und Italien eintreffen.
Doch die Münchner raufen sich zusammen. Es dauert nicht lang und die Zusammenarbeit von Freiwilligen, Stadt, Polizei und Rettungskräften klappt.
Dafür reißt Oberbürgermeister Dieter Reiter am zweiten Wochenende im humanitären Ausnahmezustand die Hutschnur. Dass außer Nordrhein-Westfalen kaum ein Bundesland bereit sei, Flüchtlinge aus München aufzunehmen, sei „inakzeptabel, dreist und einfach lächerlich“, schimpft er. Ministerpräsident Horst Seehofer beschwört derweil die angebliche Erschöpfung der Helfer und fordert – die Wiesn steht bevor –, wieder Grenzkontrollen einzuführen.
Am Bahnhof kommt das gar nicht gut an. „Wir haben stark darauf geachtet, dass die Leute nach ihren Schichten heimgehen, um sich zu erholen. Diese Erschöpfung wurde uns angedichtet“, sagt Marina Lessig. „Wir sind für die flüchtlingsfeindliche Politik der CSU instrumentalisiert worden.“ Trotzdem: Am 14. September stellt die Bundesregierung den Zugverkehr von und nach Österreich ein. Es gibt wieder Grenzkontrollen. Die Zahl der Neuankömmlinge geht schlagartig zurück.
Das Engagement der Münchner sei bis heute groß, „es ist nur nicht mehr so sichtbar“. Ein Teil der Hauptbahnhof-Crew engagierte sich bis zur Schließung der Notunterkunft in der Denisstraße, andere helfen in Flüchtlingsheimen in ihrem Viertel.
Marina Lessing arbeitet heute beim Caritas-Verband im Bereich „Bürgerschaftliches Engagement“ und ist Vorsitzende des Vereins „Münchner Freiwillige – wir helfen“, den die Aktiven vom Hauptbahnhof gegründet haben. Er unterstützt Helferkreise unter anderem bei der Verwirklichung von Projekten, beim Spendensammeln, stellt Räumlichkeiten und Fahrzeuge für sie zur Verfügung.
„Wer so etwas erlebt hat, bei dem kippt die Stimmung nicht.“
Würden sich die Ereignisse vom Sommer 2015 wiederholen, wäre wohl ein Großteil der registrierten Freiwilligen wieder dabei, schätzt Marina Lessig.
Dann erzählt sie von einigen besonders bewegenden Momenten. Von den beiden Buben, neun und elf Jahre alt, vielleicht aus dem Irak, die ein Helfer nachts bei den Mülltonnen eines Schnellrestaurants entdeckte und die sie stundenlang überreden musste, ihr in ein Kinderheim zu folgen. „Im ersten Moment haben sie unglaublich erwachsen gewirkt. Es hat lange gedauert, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dann konnte man sehen, wie die Fassade aufbricht und darunter das traurige Kind hervorkam.“ Manchmal fragt sie sich, was aus ihnen geworden ist – oder aus der Frau, die am Hauptbahnhof ein Baby bekam.
Marina Lessig wird es vermutlich nie erfahren. Doch von etwas anderem sie fest überzeugt: „Wer so etwas erlebt hat, bei dem kippt die Stimmung nicht.“
Damals & Heute: Flüchtlinge in München
- In den ersten neun Monaten des Jahres 2015 stranden mehr als 150 000 Geflüchtete am Münchner Hauptbahnhof.
- Allein zwischen 1. und 17. September kommen 75 000 dort an.
- Die höchste Ankunftszahl – 13 000 Menschen – verzeichnet die Regierung von Oberbayern am 12. September. Am Tag danach stoppt Deutschland den Zugverkehr von und nach Österreich. Trotzdem erreichen München am Sonntag noch 7100 Menschen.
- Tausende Frauen, Männer und Kinder werden in dieser Zeit mit Sonderzügen und Bussen in andere Teile Bayerns bzw. andere Bundesländer gebracht.
- Wie viele Geflüchtete die Stadt München dauerhaft unterbringen muss, richtet sich nach der Ankunftszahl, dem Verteilungssystem „Königsteiner Schlüssel“ und der Asyldurchführungsverordnung. Es sind etwa 1,5 Prozent aller Ankommenden.
- Die Folge: In der Münchner Erstaufnahmeeinrichtung (Bayernkaserne und Dependancen), den Gemeinschafts- und dezentralen Unterkünften sind im November 2015 knapp 12 800 Asylbewerber untergebracht – fast 4000 mehr als noch im August.
- Ihren Höchststand erreicht die Zahl der Migranten, die in der bayerischen Hauptstadt versorgt werden, im Februar 2016: Da sind es 13 878 Menschen.
- Aktuell leben etwa 12 300 Geflüchtete hier, darunter 2575 unbegleitete Minderjährige.
<img alt=Da sind es „erst“ 51 000: eine Tabelle mit Zahlen zur Ankunft von Asylsuchenden vom 31.08 bis 11.09. am Münchner Hauptbahnhof.