Flüchtlinge: Wenn die Angst zurückkehrt

Dramatischer Anstieg: Im Heckscher-Klinikum müssen immer mehr traumatisierte junge Flüchtlinge behandelt werden. Die AZ sprach mit Professor Freisleder im Interview darüber.
von  Natalie Kettinger
„Sie haben in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Schreckliche erlebt.“ Ein Flüchtlingsmädchen schlägt die Hände vors Gesicht.
„Sie haben in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Schreckliche erlebt.“ Ein Flüchtlingsmädchen schlägt die Hände vors Gesicht. © dpa

AZ: Herr Professor Freisleder, es kommen zunehmend mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Bayern. Viele von ihnen sind traumatisiert und müssen – unter anderem im Heckscher-Klinikum – behandelt werden. Wie ist die momentane Situation?

FRANZ JOSEPH FREISLEDER: Es sind früher schon Jugendliche aus aller Herren Länder bei uns aufgetaucht. Aber das waren Einzelfälle. In den letzten Jahren haben die Zahlen jedoch dramatisch zugenommen: 2012 mussten wird 30 junge Flüchtlinge stationär aufnehmen, 2013 waren es 50, bis Ende des laufenden Jahres erwarten wird bis zu 75 – und etwa doppelt so viele werden ambulant vorstellig.

Welche Probleme haben diese Jugendlichen?

Sie kommen in aller Regel als Notfall: Entweder ist aktuell etwas passiert, oder es hat sich etwas zugespitzt – der Betreffende hat sich zurückgezogen, gedroht sich irgendwo herunterzustürzen oder sich vor ein Auto zu werfen, oder er hat mit einem gefährlichen Gegenstand an sich manipuliert. Manche Betroffenen waren in Schlägereien verwickelt, brüllten scheinbar grundlos, befanden sich in extremen Erregungszuständen oder waren vollkommen verwirrt. Andere haben plötzlich Angstzustände und fühlen sich bedroht – weil sie in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Schreckliches mitgemacht haben und Flashbacks erleben. Wir sprechen da von einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Worin liegen die Schwierigkeiten bei der Behandlung dieser jungen Menschen?

Das beginnt schon bei der Sprache. Die Jugendlichen stammen aus Afghanistan, Somalia, Eritrea, Syrien – aus mehr als 20 Ländern. Oft sind sie erst kurze Zeit hier, sprechen maximal ein paar Brocken Deutsch und mit Glück etwas Englisch.

Warum lassen Sie sich nicht von Dolmetschern helfen?

Jede Situation ist anders. Manche kommen aus Einrichtungen wie der Bayernkaserne, einer Clearing-Stelle oder einer Wohngruppe. Dann ist manchmal ein Dolmetscher dabei. Aber in einer Akutsituation, wenn die Polizei Freitagnacht um zwei einen Flüchtling am Hauptbahnhof aufgreift, stellt sich die Frage: Woher bekommen wir jetzt einen Dolmetscher – zum Beispiel für Somali? Da kann es schon Montag oder Dienstag werden, bis wir endlich einen finden. Und selbst der kommt dann nur 30 oder 45 Minuten und muss in dieser kurzen Zeit versuchen, alles Wichtige über den Jugendlichen zu erfahren. Etwa, ob er eventuell schon vorher psychische Probleme hatte. Das gibt es ja auch. Meist gelingt jedoch lediglich eine Momentaufnahme. Der Jugendliche hat doch nicht automatisch Vertrauen zu jemandem, der zufällig dieselbe Sprache spricht, mal für eine Dreiviertelstunde vorbeischaut – und dann wieder geht.

Welche Probleme begegnen Ihnen noch?

Wir sind im Akutbereich ständig überbelegt – und die Konfrontation mit Jugendlichen aus einem anderen Kulturkreis, mit denen man noch dazu kein Wort sprechen kann, fällt nicht allen übrigen Patienten dort leicht. Die bringen ja auch jeder ein individuelles Problem mit. Aber es gibt auch tolle Gegenbeispiele.

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Erzählen Sie uns eins?

Ein junger Flüchtling hat sich, nachdem er sich hier beruhigt hatte, als unheimlich einfühlsam und sanft herausgestellt. Er hatte ein unglaubliches Fingerspitzengefühl für andere und freundete sich mit einem essgestörten Mädchen an. Die beiden haben sich richtig gutgetan. Aber es gibt halt auch solche, die in einem erregten, verzweifelten Zustand auf die – geschlossene – Akutstation kommen, und diese Situation als erneute Bedrohung, als Gefängnis empfinden. Die wissen ja nicht Bescheid. Und für uns ist es schwer, ihre Angst aufzufangen, weil wir ja nicht mit ihnen reden können.

In wieweit können Sie diesen Patienten überhaupt helfen?

Auch wenn sich ein junger Flüchtling hier stabilisiert, Kontakte knüpft und sich wohlfühlt, weiß er nicht – und ich kann es ihm auch nicht vermitteln –, wie es seiner Mutter und den Schwestern in Kundus geht. Ich kann ihm auch nicht sagen, wo er in sechs Monaten ist. Ob er in Deutschland bleibt und wenn ja wo in Deutschland; ob er seine Eltern jemals wiedersieht. Das bedeutet: Ich kann sein Trauma nicht ideal bearbeiten. Ich kann nur versuchen, seine Symptome zu behandeln, ihm Aufmerksamkeit und Schutz zu bieten und ihn an eine gute Adresse weiterzuvermitteln.

Die Zahl der Asylbewerber, auch der minderjährigen, wird wohl weiter steigen. Haben Sie einen Lösungsvorschlag?

Ich überlege hin und her, ob dann nicht Spezialeinrichtungen für Flüchtlinge mit psychischen Problemen sinnvoll wären. Gleichzeitig stelle ich meinen Vorschlag wieder in Frage. Schließlich ist es unsere Aufgabe, auch diese jungen Menschen so schnell wie möglich zu integrieren und sie nicht erneut zu separieren. Ich bin mir da noch nicht sicher. Aber über dieses Thema wird diskutiert werden müssen.

Interview: Natalie Kettinger

Professor Franz Joseph Freisleder ist Ärztlicher Direktor des Münchner Heckscher- Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie

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