Fluchtpunkt München 2015: Was war, was bleibt

Vor fünf Jahren erreichten die ersten Züge mit Flüchtlingen die Stadt. Die zeigte ihr Herz und kam an ihre Grenzen. Ein Blick auf bewegte Wochen.
von  Natalie Kettinger
Im Herbst 2015 kommen tausende Flüchtlinge in München an - die Stadt zeigt eine große Hilfsbereitschaft.
Im Herbst 2015 kommen tausende Flüchtlinge in München an - die Stadt zeigt eine große Hilfsbereitschaft. © Sven Hoppe/dpa

München - Der Münchner Flüchtlingssommer beginnt eigentlich in Budapest. Dort, am Bahnhof Keleti, sind in den letzten Augusttagen 2015 Tausende Geflüchtete gestrandet. Frauen, Männer und Kinder aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak, die sich über die Balkanroute bis nach Ungarn durchgeschlagen haben. Wohin sie wollen, ist auf den Pappschildern zu lesen, die einige in die Höhe halten: "Germany", steht da und "Bundeskanzlerin Angela Merkel".

Die Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik ist zu dieser Zeit bereits hoch, Bundeskanzlerin Angela Merkel steht deshalb unter Druck. Am 31. August sagt sie auf der Bundespressekonferenz, was Geschichte schreiben wird: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden."

Hoffnungsort Deutschland: Ein Flüchtling zeigt am Münchner Hauptbahnhof ein Foto von Angela Merkel.
Hoffnungsort Deutschland: Ein Flüchtling zeigt am Münchner Hauptbahnhof ein Foto von Angela Merkel. © dpa

In der Nacht desselben Montages erreichen die ersten Züge mit mehr als 900 Geflüchteten aus Budapest die bayerische Hauptstadt.

Eine Gruppe junger Münchner will an diesem Abend eigentlich nur gegen Pegida demonstrieren und anschließend nach Hause gehen – doch dann hört sie von den Flüchtlingen und beschließt spontan zu helfen. "Wir haben am Anfang einfach zusammengelegt, Wasser und Lebensmittel für die Menschen gekauft", erzählt eine Helferin damals der AZ. Weil das nicht reicht, verbreiten sie Spendenaufrufe über Facebook, bitten Radiosender und Internetportale um Unterstützung.

Und München hilft. Aus anfangs 20 Freiwilligen werden innerhalb weniger Stunden 60. Später, als die Homepage fluechtlingshilfemuenchen.de online geht, lassen sich 5000 Bürger registrieren, die anpacken wollen. Andere bringen Nahrungsmittel, Wasser, Decken, Kuscheltiere und Iso-Matten zum Bahnhof. Die Hilfsbereitschaft ist so groß, dass die Münchner Polizei bereits am Dienstagmittag twittert: "Die vorhandenen Spenden für die (noch) anwesenden und heute noch kommenden Flüchtlinge reichen aus. Danke!"

Herzzereißende Szenen auf dem Bahnhofsvorplatz

Auf dem Bahnhofsvorplatz – die Arnulfstraße ist mittlerweile für den Verkehr gesperrt – spielen sich währenddessen herzerweichende Szenen ab. Erwachsene Männer weinen vor Erleichterung, weil sie endlich in Sicherheit sind. Erschöpfte Kinder schlafen auf dem blanken Asphalt ein. Ein alter Mann – vielleicht aus Syrien, vielleicht aus Afghanistan oder dem Irak–, der einen etwa vierjährigen Buben an der Hand führt, sinkt auf die Knie und küsst voller Dankbarkeit den Münchner Boden.

Eine Mitarbeiterin der Bürgerinitiative Flüchtlingshilfe München verteilt am Hauptbahnhof Stofftiere an Flüchtlingskinder.
Eine Mitarbeiterin der Bürgerinitiative Flüchtlingshilfe München verteilt am Hauptbahnhof Stofftiere an Flüchtlingskinder. © dpa

Bayerische Polizisten halten schlafende Flüchtlingsbabys in den Armen, während sich deren Eltern registrieren lassen. Das Bild eines Beamten, der einem kleinen Buben lachend seine Schirmmütze aufsetzt, geht um die Welt.

Die Freiwilligen verteilen Teddybären, Wasser, Nahrungsmittel – und sie applaudieren, wenn ein neuer Zug mit Geflüchteten in den Bahnhof einfährt.

Das rechte politische Lager nimmt die Stimmung auf

Aus dem rechten politischen Spektrum werden sie später als "Willkommensklatscher" verhöhnt. Doch was man nicht vergessen darf: Es ist erst wenige Wochen her, dass in den sächsischen Gemeinden Freital und Heidenau Rechtsradikale Asylbewerberunterkünfte belagert und der Kanzlerin "Wir sind das Pack" entgegengebrüllt haben. Es ist die Zeit, in der Lutz Bachmann und seine Pegida überall im Land gegen Ausländer hetzen.

Die Münchner setzten diesem Hass ihrer Weltstadt mit Herz eine warme Willkommenskultur entgegen. Die Zivilgesellschaft hilft, weil sie gebraucht wird. "Ich habe meinem Boss auf die Mailbox gesprochen, dass ich in einem Katastrophenfall helfe. Nichts anderes ist das hier", sagt ein angehender Verkäufer, der wegen der Flüchtlinge nicht zur Arbeit gegangen ist.

Das Technische Hilfswerk baut Zelte auf dem Bahnhofsvorplatz auf, um die Ankommenden medizinisch durchchecken zu können. Freiwillige, Polizei und Stadt arbeiten Hand in Hand. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) organisiert kistenweise Obst – und Sonnenschirme, weil die Hitze auf dem betonierten Platz fast unerträglich wird.

Der OB organisiert Obst und Sonnenschirme

"Ich kümmere mich hier vor Ort, weil es meine Stadt ist, mein Hauptbahnhof, und weil es hier um Menschen geht. Das darf man in der ganzen Debatte nicht vergessen", sagt er. Am Dienstag, 1. September, kommen mehr als 2.400 Geflüchtete in München an. Vom Hauptbahnhof ist ein Shuttle-Service zum Ankunftszentrum in der Maria-Probst-Straße und in die Bayernkaserne eingerichtet. Überall im Freistaat werden Turn- und Tennishallen eilig zu Notquartieren umfunktioniert, in Rosenheim und Landshut sogar Bierzelte.

Flüchtlinge und Wiesn-Besucher treffen in München aufeinander, Bilder vom Hauptbahnhof am ersten Tag des Oktoberfests.
Flüchtlinge und Wiesn-Besucher treffen in München aufeinander, Bilder vom Hauptbahnhof am ersten Tag des Oktoberfests. © Sebastian Gabriel

Dann wird es vorübergehend ruhiger. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat den Zugverkehr in Richtung Deutschland unterbrochen. Drei Tage lang erreichen nur noch wenige Hundert Geflüchtete München. Dafür spitzt sich in Budapest die Lage zu. Die Gestrandeten von Keleti machen sich zu Fuß auf den Weg zur österreichischen Grenze, später wird die ungarische Polizei sie mit Bussen dorthinkarren. Die Angst vor einem "Schießbefehl" geht um.

Der Mythos der Grenzöffnung

Vor diesem Hintergrund vereinbaren Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr österreichischer Kollege Werner Faymann am 4. September in Absprache mit der ungarischen Regierung eine Ausnahmeregelung, nach der vorwiegend syrischen Flüchtlinge unregistriert aus Ungarn einreisen dürfen. Eine Grenzöffnung, wie oft behauptet wird, ist das übrigens nicht – die Übergänge waren nie geschlossen.

OB Dieter Reiter zeigte Präsenz.
OB Dieter Reiter zeigte Präsenz. © ho

Am Münchner Hauptbahnhof schnellt die Zahl der Ankommenden in der Folge in die Höhe: Am Samstag, 5. September, werden 6.780 Menschen gezählt. Am Sonntag, 6. September, sind es 13.000. Die CSU grollt, weil der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer nicht vorab über die Entscheidung der Kanzlerin informiert worden ist (sein Telefon war in den ausschlaggebenden Stunden wohl abgeschaltet).

Kurz wird überlegt, Wiesnzelte als Unterkünfte zu nutzen

Und auch SPD-OB Dieter Reiter ist wütend, weil die anderen Bundesländer Bayern kaum Flüchtlinge abnehmen. Zunächst zeigen sich lediglich Nordrhein-Westfalen und Thüringen kooperativ. Bei der täglichen Pressekonferenz im Starnberger Flügelbahnhof platzt dem Rathauschef der Kragen. "Das ist einfach lächerlich. Es ist ein inakzeptabler Zustand, dass es die notwendige Solidarität bundesweit nicht gibt", schimpft er. Die Unterbringungskapazitäten in München seien restlos ausgeschöpft, die Stadt am Limit.

Die CSU plagen derweil ganz andere Sorgen: Das Oktoberfest steht an, Hunderttausende Touristen werden erwartet. Geht alles weiter wie gehabt, werden sie am Hauptbahnhof auf die Geflüchteten treffen. Und während die Regierung von Oberbayern noch erwägt, Wiesnzelte zu Behelfsunterkünften umzufunktionieren, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann etwas, was das Internet und die Flüchtlingshelfer in Rage versetzt: "Insbesondere Asylsuchende aus muslimischen Ländern sind Begegnungen mit massiv alkoholisierten Menschen in der Öffentlichkeit nicht gewohnt." Das Netz empört sich über die "#Oktoberfestung".

20.000 Geflüchtete an einem Wochenende

Am zweiten Septemberwochenende erreichen erneut mehr als 20.000 Geflüchtete München. Am Sonntag, 13. September, kündigt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) Kontrollen an der bayerisch-österreichischen Grenze an. Asylsuchende sollen fortan direkt von dort aus auf Sammelunterkünfte im ganzen Land verteilt werden.

Am Tag darauf registriert die Stadt München noch 1.000 Neuankömmlinge am Hauptbahnhof, dann kehrt langsam Ruhe ein – auch, weil der Zugverkehr aus Ungarn und Österreich zeitweise eingestellt wird.

Zwischen Ende August und Mitte September zählt man in München in diesem Flüchtlingssommer 2015 über 70.000 Asylsuchende – weit mehr, als der Freistaat Bayern im Jahr 2014 insgesamt aufgenommen hat. Am 19. September 2015 beginnt die Wiesn.

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