Flexi-Jahr: Schüler und Lehrer sind skeptisch
Ein Flexi-Jahr soll die schlimmsten Folgen des G8: So sehen Lehrer und Schüler die Alternative zum Sitzenbleiben. Die AZ veranstaltet eine Podiumsdiskussion.
München - Die großen Ferien nahen, doch erst einmal kommen die Zeugnisse und mit ihnen für manchen Schüler die bange Frage, wie seine Schullaufbahn weitergeht. Ab dem Herbst können Schüler zum ersten Mal ein sogenanntes Flexibilisierungs-Jahr einlegen – eine Image-schonende Alternative zum Sitzenbleiben.
Damit reagiert Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) auf die Forderung nach der Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums. Das Flexi-Jahr soll Schülern helfen, die vom gedrängten Stoff des achtjährigen Gymnasiums überfordert sind oder die sich mehr Zeit fürs Klavierspielen oder das Fußballtraining wünschen. Es ist eine Weiterentwicklung des freiwilligen Wiederholens. Weil die Schüler bis zu sechs Wochenstunden abwählen können, eröffnet es neue Perspektiven für die individuelle Förderung. Wer will, kann sich mehr Zeit lassen, sich sozusagen sein individuelles G9 schaffen.
Ein verlockendes Angebot? „Bei uns gab es bisher zwei Anfragen an den Elternbeirat“, sagt Bernd Hieronymus, der Leiter des Münchner Luitpold-Gymnasiums mit knapp 1000 Schülern. Er rechnet mit „einer Handvoll“ Flexi-Schülern.
Die Organisation für das neue Modell steht am Luitpold-Gymnasium bereits: Eine Schulpsychologin soll den Teenagern zeigen, wie sie besser lernen können. Dazu kommen je zwei Förderstunden in Deutsch, Mathe und Englisch am Nachmittag. Während der zusätzlichen Freistunden am Vormittag sollen die Flexi-Schüler in der Bibliothek in Absprache mit ihren Lehrern selbstständig lernen. Hieronymus findet das Flexi-Jahr keine schlechte Idee – woanders ist die Skepsis größer.
„Das Interesse der Schüler und Eltern hält sich bisher in Grenzen“, sagt Gunda Silveira, Vizedirektorin des Pestalozzi-Gymnasiums. „Wir in der Schule fragen uns auch, wie es organisiert werden kann. Angenommen, ein Schüler wählt sechs Stunden ab und bräuchte intensive Förderung in Mathe oder Latein – wer sagt, dass in den Stunden, in denen er frei hat, ein Lehrer für Mathe oder Latein verfügbar ist?“
Das Kultusministerium kann sich für eine individuelle Intensivierung auch Blockunterricht in den Ferien vorstellen – doch auch dies, sagt Silveira, sei schwer zu realisieren: „In den Ferien müssen Lehrer Korrekturen erledigen und Unterricht vorbereiten.“
Auch Martin Müller vom Elternbeirat der Schule sieht viele offene Fragen. Beispielsweise sei die Raumfrage ungelöst. „In unserer Schule ist schon jetzt kein Raum mehr frei.“ Ein generelles Problem für städtische Schulen ist das Geld. Damit das Flexi-Jahr Sinn hat, müssen sich qualifizierte Lehrkräfte um die Kinder kümmern.
Für die staatlichen Schulen gibt das Kultusministerium eigenes Geld – die städtischen Schulen jedoch müssen mit den Mitteln auskommen, die sie bisher hatten, sagt ein Direktor zur AZ. Da ist Improvisationstalent gefragt. „Welche Fördermöglichkeiten es im Flexi-Jahr gibt, muss mit der jeweiligen Schule abgeklärt werden“, heißt es im Schulreferat.
Hermann Aulinger, Rektor des Adolf-Weber-Gymnasiums, will einzelne Lehrer mit der Organisation des zusätzlichen Unterrichts für die Flexi-Schüler beauftragen. Bereits jetzt vermittelt die Schule Jugendlichen bei Bedarf Nachhilfe durch ältere Schüler – auf dieses Angebot will Aulinger aufbauen.
Er macht sich aber keine Illusionen darüber, wie intensiv der Flexi-Unterricht sein kann: „Angenommen, wir hätten mehrere Kinder in verschiedenen Jahrgangsstufen, die ein Flexi-Jahr mit verschiedenen Fächer-Schwerpunkten einlegen wollen – dann wird die Organisation unter Umständen schwierig. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass sich die Kinder in ihren freien Stunden in die Bibliothek setzen und mithilfe von Arbeitsblättern im Eigenstudium lernen.“
Peter Kemmer, Rektor am städtischen Luisengymnasium, sieht das Flexi-Jahr trotz der begrenzten Ressourcen der Schulen gelassen: „Uns macht das keine Probleme, weil wir heute schon viele individuelle Fördermöglichkeiten anbieten.“
Auch beim Luisengymnasium rennen Eltern oder Schüler dem Rektor freilich wegen des neuen Angebots nicht die Tür ein. „Aber das kann sich noch ändern“, sagt Kemmer. „Die Zeugnisse kommen ja erst.“
Hermann Aulinger ist skeptischer – auch aus einem anderen Grund. „Meine Prognose ist, dass die Kinder das nicht gerne machen wollen. Es ist einem Kind, das eine Klasse bestanden hat, einfach schwer zu vermitteln, dass es die Klasse trotzdem wiederholen soll.“
Das Kultusministerium beteuert, die Stärkung der individuellen Förderung sei schon jetzt wichtig. Mit verschiedenen Modellprojekten im Freistaat werde gezeigt, wie das gut funktionieren könne. Unter anderem verweist das Ministerium auf das Max-Born-Gymnasium in Germering. Ein Anruf im dortigen Direktorat ergibt: Ja, man fördere zwei Zehntklässler, die die Jahrgangsstufe freiwillig wiederholen, extra.
Die Teenager werden in eine schon bestehende Vorbereitungsklasse für Realschüler gesteckt, die das Abitur machen wollen. Dazu kommen vier Stunden Förderunterricht. Wie die Schule damit umgehen werde, wenn beispielsweise zwei Schüler eine Extra-Förderung in Englisch in der achten Klasse, zwei weitere Mathe in der neunten und einer Deutsch in der zehnten Klasse bräuchten? Die Antwort von Vize-Direktor Carsten Müller ist ernüchternd. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir das in der Praxis leisten könnten.“
Auch am Gymnasium Fürstenried-West – einer weiteren Modellschule – hält sich die Euphorie in Grenzen, zumindest in der Schülerschaft. Theoretisch hätten die Jugendlichen schon im aktuellen Schuljahr diese Option wählen können. „Wir haben die Eltern von einigen Schülern der zehnten Klassen angeschrieben, bei denen wir das für sinnvoll gehalten hätten“, berichtet Schulleiter Werner Fiebig. „Gemacht hat es im Endeffekt keiner.“
Das Flexi-Jahr richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe im Gymnasium. Es wird in zwei Varianten angeboten.
Variante 1: Der Schüler hat die Jahrgangsstufe acht, neun oder zehn bestanden, entscheidet sich aber dafür, sie in modifizierter Form noch einmal zu durchlaufen, um Rückstände aufzuholen. Er kann diese Entscheidung bis zum Ende des folgenden Schulhalbjahres treffen.
Wer also im Dezember oder Januar noch merkt, dass die neunte Klasse zu schwierig ist, kann in die achte Klasse zurück und den Stundenplan seinen Bedürfnissen zu einem bestimmten Grad anpassen.
Bis zu sechs Wochenstunden des normalen Stundenplans können der Schülerin oder dem Schüler erlassen werden, allerdings „in der Regel“ nicht in den Kernfächern. Durch die zusätzliche freie Zeit soll der Schüler Luft für extra-Intensivierungsstunden in Bereichen bekommen, in denen es hakt. Beispiel: Ein Schüler der achten Klasse eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums könnte die Fächer Geographie, Biologie und Geschichte abwählen.
Mit einem Blockseminar Deutsch und Englisch-Nachhilfestunden schließt er seine Lücken in diesen Bereichen. Ein Sonderfall ist das Flexi-Jahr in der zehnten Klasse. Weil die Schüler in der elften und zwölften Klasse nicht mehr alle bisherigen Fächer belegen müssen, können beim Flexi-Jahr in der zehnten Klasse auch Kernfächer abgewählt werden.
Das Kultusministerium empfiehlt es auch für Kinder, die nach einem Auslandsjahr nach Bayern zurückkommen. Genauso wie das bisherige freiwillige Wiederholen wird das Flexi-Jahr nicht auf die Höchstausbildungsdauer von zehn Jahren angerechnet. Es kann höchstens einmal in Anspruch genommen werden.
Variante 2: Der Schüler entscheidet sich im Voraus, den Stoff der Klassen acht oder neun in zwei statt einem Jahr zu absolvieren. Auch hier kann er bestimmte Fächer zeitweise abwählen, um beispielsweise mehr Zeit für musische Interessen oder für Problemfächer zu erhalten. Ein Zeugnis, das ihm das Erreichen des Klassenziels attestiert, bekommt er erst am Ende des zweiten Jahres.
Wie ist die Lage an Bayerns Schulen?
Am kommenden Montag, 8.Juli, diskutieren auf Einladung der Abendzeitung Bildungspolitiker und -experten über die Lage an Bayerns Schulen. Kultusminister Ludwig Spaenle wird gemeinsam mit Stadtschulrat Rainer Schweppe, Lehrerverband-Chef Klaus Wenzel und Claudia Langer, Direktorin des Albrecht-Ernst-Gymnasiums in Oettingen, auf dem Podium Platz nehmen.
Außerdem diskutiert ein Sprecher des Maria-Theresia-Gymnasiums mit, in dessen Aula am Regerplatz die Veranstaltung stattfindet. Moderiert wird sie von AZ-Chefredakteur Arno Makowsky. Beginn ist um 17 Uhr, Einlass ab 16.30 Uhr. Den Aula-Eingang finden Sie im roten Gebäude an der Drächslstraße.
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