Experte zur Vorsorgevollmacht: "Die wichtigste Regelung Ihres Lebens"

München - Ein jeder kann durch einen Unfall oder eine Krankheit plötzlich in die Situation kommen, über wichtige Fragen im Leben nicht mehr selbst entscheiden zu können. Rechtsanwalt Wolfgang Böh erklärt, worauf es ankommt - und wo aus seiner Sicht die Politik dringend handeln muss.
AZ: Herr Böh, wie wichtig ist eine Vorsorgevollmacht?
WOLFGANG BÖH: Elementar wichtig - und nicht erst, wenn man älter ist. Es ist die wichtigste und schwierigste Regelung Ihres Lebens. Sie beinhaltet das Gesundheitliche, Medizinische und Private. Wer liest Ihre Post? Wo leben Sie? Wie werden Sie medizinisch behandelt oder nicht behandelt? Und was passiert mit Ihrem Vermögen? In der Vorsorgevollmacht sind alle Verträge beinhaltet, die Sie jemals abgeschlossen haben. Sie übertragen einem Bevollmächtigten alles. Aber viele wissen gar nicht, dass man eine braucht.
In Deutschland gibt es kein Stellvertreterrecht
Warum sollte man sich schon früh damit beschäftigen?
Ich stelle immer wieder fest, dass die meisten denken: Wenn ich im Krankenhaus liege, darf mein Ehepartner für mich entscheiden. Aber so ist das eben nicht in Deutschland. Ohne Vorsorgevollmacht darf mir der Arzt streng genommen nicht sagen, wie meine Frau gesundheitlich beinander ist.

Aber praktiziert wird's ja meist anders ...
Ja, häufig schon, aber die rechtliche Situation ist anders. Wir haben kein Stellvertreterrecht wie in der Schweiz. Das muss dringend geändert werden bei uns. Das betrifft auch nicht nur ältere Menschen, es betrifft alle. Ich habe einen Mandanten, der erst 25 und ein Betreuungsfall ist. Er hatte einen Autounfall. Es wäre vernünftig nach der jetzigen Rechtslage, wenn jeder mit 18 eine Vorsorgevollmacht ausfüllen würde.
Experte rät von standardisierten Vorsorgevollmachten ab
Wenn ich mit 35 ins Koma falle, werden meine Eltern meine Betreuer, oder?
Das denkt man. Aber das ist nicht immer der Fall - weil die Eltern woanders wohnen oder schon zu alt sind oder weil wirtschaftliche Interessen dem entgegenstehen.
Ein Beispiel?
Ich habe eine Mandantin, die eine Eigentumswohnung mit ihrem dementen Papa hat. Sie wird nicht gesetzliche Betreuerin, weil das Gericht sagt, da bestünde ein wirtschaftlicher Interessengegensatz.
Was taugen die Vollmachten, die man sich im Internet herunterladen kann oder die es als Broschüre zu kaufen gibt?
Aus meiner Sicht sind diese standardisierten Vorsorgevollmachten tödlich. Sie müssen damit 100 Prozent Ihres Lebens abdecken, wie soll das möglich sein, indem Sie nur Ja oder Nein ankreuzen? Bei der Patientenverfügung müsste man Hellseher sein, um zu wissen, was kommt. Ich halte es für sinnvoller, die medizinischen Entscheidungen dem Bevollmächtigten zu übertragen und ihm in Briefform meine zentralen Wünsche mitzuteilen. Die standardisierten Vorsorgevollmachten sind auch oft fehlerhaft.
Standardisierten Vorsorgevollmachten "begünstigen Erbschleicher massiv"
Wie das?
Man wird zum Beispiel nicht explizit darauf hingewiesen, dass Sie bei Immobilieneigentum zwingend eine notarielle Unterschriftenbeglaubigung brauchen, sonst ist die Vorsorgevollmacht formunwirksam.
Sind diese Formulare nicht zudem super für Erbschleicher?
Absolut. Sie begünstigen Erbschleicher massiv. Was ist einfacher, als die Dinger auszufüllen, überall Ja anzukreuzen, und sie zur Unterschrift vorzulegen? Ärzte und Banker halten sich in der Regel daran.
Was kann man tun, wenn man feststellt, dass sich jemand an den alten Vater oder Opa ranwanzt oder sich sogar eine Vollmacht erschlichen hat?
Ich empfehle, zu einem Anwalt zu gehen, der auf Betreuungs- und Erbrecht spezialisiert ist. Man kann dann ein Betreuungsverfahren anregen.
"Das ganze System der Vorsorgevollmacht/Betreuung muss geändert werden"
Werden Erbschleicher eigentlich strafrechtlich belangt?
Dazu gibt es keine Zahlen und keine Forschung. Nach unserer Erfahrung: extrem selten. Zivilrechtlich kann man schon Einiges machen, aber dass jemand wirklich bestraft wird, kommt nur bei ganz drastischen Fällen mal vor. Die Dunkelziffer ist in diesem Bereich sehr hoch. Manche Familien bekommen jahrelang nicht mit, dass sich jemand bereichert, weil der Kontakt zur betroffenen Person nicht eng ist und der Erbschleicher sich im Hintergrund hält.
Was muss sich ändern?
Das ganze System der Vorsorgevollmacht/Betreuung muss geändert werden. Am logischsten wäre es, wenn man eine gesetzliche Stellvertretung mit reinnehmen würde, also dass die gesetzlichen Erben wie der Ehepartner oder die erwachsenen Kinder im Fall der Fälle automatisch eine Stellvertreter-Funktion übernehmen.
Würde man es Erbschleichern damit schwerer machen?
Auf jeden Fall. Aber die Vorsorgevollmacht ist nur ein Baustein. Das Betreuungsrecht basiert auf der Geschäftsfähigkeit. Aus meiner Sicht ist dieser Begriff in vielen Fällen nicht mehr praxistauglich. Denn er setzt eine psychiatrische Grunderkrankung voraus, etwa eine schwere Demenz. In der Praxis ist es häufig aber so, dass auch jemand, der schwer krebskrank ist und alleine zuhause im Pflegebett liegt, nicht mehr frei entscheiden kann. Solche Fälle liegen im Graubereich und werden von einer Geschäftsunfähigkeit nicht erfasst.
Wie lange dauern Betreuungsverfahren etwa?
Das ist eines der großen Probleme: lange! Das Personal in den Betreuungsgerichten muss dringend aufgestockt werden. Ich habe Verfahren, die acht Jahre dauern... Auch sind sie häufig fehlerbehaftet. Wir sind oft bis zum Bundesgerichtshof (BGH) gegangen. Außerdem bräuchten wir dringend Qualitätsstandards für die Gutachter. Da gibt es welche, die die Betroffenen im Supermarkt befragen. Oder es werden Auskünfte bei Nachbarn eingeholt. Richtige gerichtliche Überprüfungen dieser Angaben finden nicht statt.
Der Sprecher des Amtsgerichts München weist in diesem Zusammenhang darauf hin: "Auch das jeweils für den Betroffenen zuständige Amtsgericht-Betreuungsgericht wird allen hinreichend konkreten Hinweisen nachgehen, aus denen sich ergibt, dass für einen Mitbürger eine Betreuung nötig ist oder eingerichtete Betreuungen bzw. bestehende Vollmachten missbraucht werden. Diese Hinweise können dem Gericht auch ohne Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts zugeleitet werden. Auf den jeweiligen Homepages der Amtsgerichte finden sich hierzu weitere Informationen."