Eva-Maria Birnhäupl-Hoppe: Eine 99-Jährige, die es wissen will

München - Die Wohnungstür geht auf und da steht eine filigrane Frau in Pailletten-Pullover und mit dezentem roten Lippenstift. Sie führt in ihr Wohnzimmer, ein Raum wie in einem Völkerkundemuseum. An der Wand ein großer geschnitzter Vogel, "Guruda, der König der Vögel aus Bali", sagt die Hausherrin. An der Heizung ein Schildkrötenpanzer, so groß wie Autofelgen, und daneben eine Skulptur aus Togo. "Die Schildkröte ist vorher eines natürlichen Todes gestorben", sagt Eva-Maria Birnhäupl-Hoppe und hebt den Zeigefinger. Die Exponate hat sie selbst gesammelt. Auf ihren 23 Kreuzfahrten in den 60er und 70er Jahren. Wie sie als Schauspielerin das Geld dazu hatte? Gar nicht, sagt sie, sie habe ihren Mann begleitet. Der war Musiker und spielte für das betuchte Publikum Bratsche, Geige und Klavier.
Eva-Maria Birnhäupl-Hoppe ist der lebende Beweis, dass man auch mit 99 ehrgeizige Ziele haben kann. Am Donnerstag hatte sie Geburtstag. Die AZ hat sie besucht.
Zweiter Weltkrieg: Flucht von Berlin nach München
Ihre gesamte Jugend verbrachte die AZ-Abonnentin im Zweiten Weltkrieg. 1945 musste sie vor den Bomben von Berlin nach München fliehen. Und sich nach Kriegsende dort eine Karriere als junge Schauspielerin aufbauen.
Wer meint, dass viele Krisen schneller altern lassen, der irrt: Im vierten Stock der kleinen Schwabinger Wohnung in der Nähe des alten Nordfriedhofs reicht eine umtriebige Gastgeberin Pralinen und Sekt zum Anstoßen. Immer wieder hebt sie sich aus ihrem Ledersessel, um etwas in ihrer Wohnung zu zeigen.
Diesmal führt sie in den Flur, öffnet die schmale Tür, hinter der sie ihre Schuhe aufbewahrt. An der Schranktür kleben über 20 ausgeschnittene Schlagzeilen. Über 100-Jährige, die geehrt werden oder einen Einbruch vereitelt haben. Die Älteste in der Galerie ist 116. Vor etwa fünf Jahren habe sie angefangen zu sammeln, sagt Birnhäupl-Hoppe. Ihre Idole.

Birnhäupl-Hoppe: "Möchte die 100 schon noch knacken"
Der Countdown der letzten 365 Tage läuft: "Jetzt möchte ich die 100 schon noch knacken", sagt sie. Eine Frau, die die Vorzüge und Schattenseiten eines so langen Lebens kennt. Sie kann ihre Urenkel aufwachsen sehen und viel von ihrer Rentenzeit genießen. Aber sie musste sich nach und nach auch von vielen wichtigen Menschen in ihrem Leben trennen. Von Freunden, Weggefährtinnen und vor 20 Jahren auch von ihrer großen Liebe. "Ich hab immer zu ihm gesagt, du bist mein rechter Arm. Und er hat dann gesagt: Du bist mein linker."
Wenn sie die Wohnung verlässt, nimmt sie einen Stock mit. Wie ein Oldtimer-Cabrio hat sie ihren Körper gut in Schuss gehalten. Lediglich ihr linkes Auge sieht nur Konturen und kann Unebenheiten schlecht erkennen. Die Ohren sind auch nicht mehr die einer 20-Jährigen, aber das regelt das Hörgerät. Sonst wirkt Birnhäupl-Hoppe wie konserviert. Als hätte sie mit 70, 80 beschlossen, mit dem Altern aufzuhören.
65 Jahre ist ihr Wohnzimmer schon an derselben Stelle in derselben Wohnung. Dabei kommt sie ursprünglich aus Berlin. Das hört man auch heute noch ein wenig. Sie sagt "dit" und "ick" statt "das" und "ich". Aufgewachsen ist sie wenige Meter vom Tempelhofer Feld. Ihre Mutter war Sängerin, ihr Vater Beamter. Schon zu Schulzeiten habe sie die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn erregt, wenn sie wieder lauthals im Hof ihre ersten Rollen übte.
Gebäude zerstört: "Ein einziger Trümmerhaufen"
Nach mehreren Jahren Sprech- und Schauspielunterricht hatte Birnhäupl-Hoppe ihre ersten Engagements in Theaterhäusern in Lothringen, Luxemburg und Lübeck. "Bis dieser kleine bucklige Politiker in Berlin den 'totalen Krieg' ausgerufen hat", sagt sie mit finsterem Gesicht.
1943 war das. Sie meint den NS-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Bei der zentralen Mobilmachung mussten neben Fabriken und Geschäften, die nicht in den Kriegsdienst gestellt werden konnten, auch alle Theater und andere Kulturhäuser schließen. 1945 wurde Berlin dann massiv von der Luft aus angegriffen. Ihre Eltern, sagt sie, setzten die 23-Jährige in einen der letzten Busse, die unter einem Vorwand Berlin Richtung Süddeutschland verließen.
Und wieder hatte Eva-Maria Birnhäupl-Hoppe Glück. Sie gelangte schließlich nach München. Dort trifft sie, neben dem sechs Jahre jüngeren Musiker, den sie später heiraten würde, auch viele ehemalige Schauspielkolleginnen und -kollegen. Die Gebäude in der Innenstadt, wie das Residenztheater, hatten die Bomben schwer beschädigt. "Das war ein einziger Trümmerhaufen", sagt Birnhäupl-Hoppe. Doch keine vier Jahre nach Kriegsende spielte die 27-Jährige im Stück Blaubart bei der Wiedereröffnung - ein Höhepunkt ihrer Theaterkarriere.

Seit fast 40 Jahren in Rente
Dieses Unermüdliche ist Teil ihrer Strategie, nach so vielen Jahren nicht zynisch auf die Welt zu blicken, sondern immer noch zuversichtlich. Als Schauspielerin sei man damals noch einem Genre zugeteilt worden: "Ich wurde immer bei den Heiteren einsortiert", sagt sie und ihre Wangen kräuseln sich in kleine Grübchen.
Auch als sie Mutter wurde, verließ sie die Bühne nur kurz und arbeitete bald weiter. Nur auf die Kreuzfahrten konnte sie ihren Mann zunächst nicht mehr begleiten. Mit ihm habe sie eine "Beziehung auf Augenhöhe" geführt. Und das zu einer Zeit, als Frauen ihre Männer nach dem Gesetz noch fragen mussten, bevor sie eine Arbeit anfangen durften. Ob er mit dem Schauspiel einverstanden war? "Sehe ich so aus, als hätte ich mir da etwas sagen lassen", fragt Birnhäupl-Hoppe mit spitzem Blick.
Heute ist sie bald 40 Jahre in Rente. Es zieht sie trotzdem immer wieder auf die Bühne. Erst Mitte November sei sie im Gasteig mit selbst geschriebenen Gedichten bei einem Abend vom Alten- und Servicezentrum aufgetreten. Sie schaut aus der Fensterfront zum Innenhof. Schon setzt sie zu drei fein gereimten Strophen über die Blicke der Bäume an.
"Schreiben kann man sich nicht vornehmen"
Auf dem Couchtisch habe sie immer Stift und Notizblock bereitliegen. "Schreiben kann man sich nicht vornehmen", sagt Birnhäupl-Hoppe. Man müsse die Inspiration abpassen und sich dann ganz darauf konzentrieren. Das ist das Schöne an ihrem Alter, sagt sie: "Ich muss jetzt nicht mehr ständig hinterher sein, die Brötchen zu verdienen." Sie sei von Berufswegen noch eher die Nachteule und macht häufig erst nach Mitternacht das Licht aus. Jeden Tag trinkt sie ihr Glas Wein, aber geraucht habe sie nie. Dafür lässt sie sich gerne den ganzen Morgen Zeit zum Frühstücken und Zeitunglesen. Das ist aber nur ein Teil ihres Gesundheitsgeheimnisses: Diesmal lotst sie in ihre schmale Küche mit den olivgrünen Fließen. Sie deutet auf eine orangene Tasse, gut sichtbar vorne im Holzregal. "'N scheiß muss ich", steht da. Es ist das Erste, was sie morgens bei Kaffee und Marmeladenbrot liest, sagt sie.
Ob es etwas gibt, was sie sich jetzt zum 99. Geburtstag wünscht? Wünschen? Sie habe doch alles. Dann fällt es ihr ein: "Gesundheit und ein langes Leben." Eben damit es reicht, um es auch in die Ehrengalerie im Flurschrank zu schaffen.