„Es wird zu viel weggeworfen“: Münchner suchen im Abfall nach Essen

Abgelaufene Lebensmittel landen im Müll. Eine Verschwendung, sagen einige Münchner – und fischen sie nachts wieder aus dem Abfall. Die AZ hat sogenannte „Mülltaucher“ getroffen.
von  Sebastian Goecke
Fette Beute: Gefunden in einer Münchner Tonne.
Fette Beute: Gefunden in einer Münchner Tonne. © Marbara Merhart von Bernegg

Abgelaufene Lebensmittel landen im Müll. Eine Verschwendung, sagen einige Münchner – und fischen sie nachts wieder aus dem Abfall. Die AZ hat sogenannte „Mülltaucher“ getroffen.

München – Es ist halb elf Uhr nachts, es nieselt leicht und fast niemand ist mehr auf den Straßen unterwegs. Nur zwei unscheinbar gekleidete junge Männer stehen im Lichtkegel einer Straßenlaterne auf dem leeren Parkplatz eines Supermarkts in München. Moritz nickt seinem Freund zu, zieht sich Gummihandschuhe an und verschwindet im Schatten, wo die Müllcontainer stehen. Abgesehen vom Brummen der Kühlanlage ist alles ruhig. Bei jedem lauteren Geräusch zuckt Moritz kurz zusammen. Er will sich beim Containern nicht erwischen lassen. Während sein Freund Schmiere steht, beginnt Moritz, ausgerüstet mit einer Stirnlampe, im ersten Müllcontainer zu wühlen.

Moritz (24) ist ein Münchner Student und geht mehrmals wöchentlich Containern. Das wird auch Dumpstern oder Mülltauchen genannt und bedeutet, im Abfall nach Lebensmitteln zu suchen. Aber nicht in irgendeinem Mülleimer, sondern in großen Containern wie denen von Supermärkten.

„Es ist unglaublich, wie viel weggeworfen wird“, sagt Moritz. „Die Lebensmittel sind oft noch vollkommen in Ordnung. Wenn ich sie mitnehme, verkommen sie nicht im Abfall und ich kann bares Geld sparen.“ Er meint: „Das ist wie Einkaufen nach Ladenschluss“.

Ein großer Teil der weltweit produzierten Lebensmittel landet im Abfall. Vor allem in den Industrieländern, wo über die Hälfte der Lebensmittel verdirbt oder auf dem Müll endet.

Für Menschen wie Moritz ist Containern deshalb eine gute Tat. Schließlich rettet er Lebensmittel vor der Verschwendung. Trotzdem macht er sich strafbar: Das deutsche Eigentumsrecht betrachtet den Entsorger als Eigentümer, bis der Abfall abgeholt wird. Vor Gericht kann entscheidend sein, ob der Supermarkt ein sichtbares Interesse daran gehabt hat, die Lebensmittel einzubehalten. Hausfriedensbruch könnte ein weiterer Anklagepunkt sein, denn wer Containern geht, verschafft sich oft unberechtigt Zugang auf das Supermarktgelände.

„Ich bin da vorsichtig“, sagt Moritz. „Wir gehen immer mindestens zu zweit, so dass einer aufpassen kann. Wenn jemand kommt, müssen wir schnell verschwinden. Da lernt man es zu schätzen, wenn schlechtes Wetter ist, weil dann abends keiner draußen unterwegs ist. Auch kalte Winter sind uns willkommen, dann sind die Container wie Kühlschränke und selbst leicht verderbliche Lebensmittel halten sich lange.“ Große Sorgen, erwischt zu werden, macht sich Moritz nicht. Er hat schon von mehreren Gerichtsprozessen gehört, die ohne Strafe für die Mülltaucher endeten.

Der Münchner Polizei sind bisher keine Fälle von Containern bekannt. Eine Sprecherin hatte sich auf AZ-Anfrage erkundigt. Abgesehen von einem Kleidercontainerdieb gab es aber keine polizeilich bekannten Fälle. Das heißt nicht, dass keiner containert. Aber: Wo keine Anzeige, da keine Polizei.

Fragt man bei Supermärkten nach dem Thema Containern, fallen die Antworten recht gleich aus: Die Abfallmenge werde durch technischen und planerischen Einsatz auf ein Minimum begrenzt. Entstehen trotzdem verzehrbare Abfälle, werden diese an Einrichtungen wie die Tafeln weitergegeben. Allein Aldi-Süd geht explizit auf die Tätigkeit des Containerns ein. Die Botschaft ist eindeutig: Es wird nicht geduldet, da nur Lebensmittel entsorgt werden, die nicht mehr zum Verzehr geeignet sind.

Viele Supermärkte wollen Müllplünderer mit Schlössern an den Containern abhalten oder stellen diese innerhalb eines Gitterkäfigs ab. Wer containert, sucht daher erst einmal nach einem guten „Spot“.

„Wir haben zu Beginn bei dem Spot eines Kollegen mitcontainert. Später haben wir uns aber eigene Quellen gesucht“, sagt Andrea, die mit zwei Freundinnen zusammen containern geht. Andrea ist Anfang 30 und fischt seit mehreren Jahren Lebensmittel aus Abfallcontainern. Äußerlich macht sie einen sehr gepflegten Eindruck und wer sie ansieht, weiß, dass Andrea es finanziell nicht nötig hätte, sich von Abfall zu ernähren.

Andrea containert aus Überzeugung: „Es kann doch nicht sein, dass wir diese Massen an Lebensmitteln einfach wegwerfen!“ Trotzdem versteht sie auch die Leiter der Supermärkte: „Einmal hatten wir einen super Spot, dort war der Container immer voll mit guten Sachen. Aber nach einigen Wochen kamen ziemliche Idioten dazu, die jedes Mal einen Mordsverhau hinterlassen haben. Klar, dass der Container dann eingezäunt wird.“

Im Laufe ihrer Container-Zeit hat Andrea bereits mehrere gute Erfahrungen mit Supermärkten gemacht: „Die Angestellten bekommen ihre Anweisungen von oben. Aber in manchen Fällen merkt man, wenn die einen indirekt unterstützen. An einem Supermarkt waren immer an bestimmten Tagen die Müllcontainer nicht richtig abgeschlossen.“

Heute betreibt Andrea nur noch „Luxus-Containern“, wie sie es nennt. Nachdem ihr ehemals bester Container-Standort abgeriegelt wurde, hat sie sich mit dem jeweiligen Filialleiter in Verbindung gesetzt. Mittlerweile darf sie ganz legal – tagsüber – beim Supermarkt vorbei kommen und die Abfallcontainer auf unbedenklich verzehrbare Ware absuchen.

Weil ihr damit viel mehr zur Verfügung steht, als Andrea selbst essen könnte, betreibt sie Food-Sharing und verteilt regelmäßig überschüssige Lebensmittel in ihrem Freundeskreis. Hauptsache, das Essen verkommt nicht sinnlos.

 

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