Erste Münchner Patientenbeauftragte: Anlaufstelle für Sorgen

Petra Schweiger ist die erste Patientenbeauftragte der Stadt. Ein Gespräch über Zehenschmerzen, Vernetzung und den Mut, Dinge anzusprechen.
München - Die Frau für Münchner Beschwerden: Petra Schweiger aus Bogenhausen ist die erste kommunale Patientenbeauftragte und seit Mai im Referat für Gesundheit und Umwelt tätig.
AZ: Frau Schweiger, wann waren Sie das letzte Mal selbst Patientin?
PETRA SCHWEIGER: Bei meinem Hausarzt. Da haben wir meine persönliche Work-Life-Balance abgeglichen mit dem, wie er mich so wahrnimmt und was er da empfiehlt. Natürlich auch im Zusammenhang mit der neuen Stelle mit der viel Arbeit auf mich zukommt.
Sie sind seit Mai Patientenbeauftragte. Wie viele haben sich schon bei Ihnen gemeldet?
Es gab 37 Patientenanliegen am Telefon und 19 Menschen, die mich am Tag der Daseinsvorsorge kürzlich am Marienplatz angesprochen haben. Aber an diesen Zahlen sollte man nichts ablesen: Viel Arbeit war erstmal die Vernetzung mit den Stellen in der Stadt.
Wie lange dauert ein Anruf?
Momentan spreche ich noch sehr ausführlich mit allen. Eine Dame hat sich fünf Mal gemeldet, ist jetzt aber gut angedockt bei einem Alten- und Servicezentrum. Man wird sehen müssen, ob ich das in diesem Umfang weitermachen kann.
Perspektivenwechsel beim Beratungsgespräch
Hilft es, dass Sie selbst keine Ärztin sind?
Ich wechsle sowieso die Perspektive: Wenn wir aus Versorgersicht auf Patienten schauen, haben wir zum Beispiel schonmal ganz andere Wörter. "Entlassungsmanagement", den Begriff würde ein Patient nie verwenden.
Das heißt, es erscheint bald ein Wörterbuch von Ihnen: "Patient – Arzt, Arzt – Patient"?
Da gibt es schon relativ viel Literatur. Im Endeffekt geht es bei meiner Stelle ja darum, dass ich mit allen zuständigen Anlaufstellen erstmal schaue: Wer kommt da überhaupt? Was wollen die? Wie bekommen wir eine gemeinsame Dokumentation dieser Fälle?
Das klingt wahnsinnig bürokratisch. Finden Sie?
Ich finde, das klingt wahnsinnig induktiv, weil man aus vielen Fällen ja eine Regel ableiten kann. Man schaut aus Patientensicht, was es überhaupt für Anliegen gibt.
Freiwillige melden sich als Fürsprecher für Kliniken
Dieser Zettelstapel da vor Ihnen: Das sind die Anliegen, die Sie am Tag der Daseinsvorsorge bekommen haben?
Sind sie. Da wurde sehr viel geschrieben.
Und was steht da so drauf?
Ich kann die Ihnen natürlich nicht zeigen wegen des Datenschutzes, aber ich kann ja mal kurz anonymisiert erzählen. Da ist zum Beispiel eine Anfrage, was eigentlich passiert, wenn man überraschend länger ins Krankenhaus muss und keine Kleidung mitnehmen konnte. Ein Zettel ist voll mit Lob für eine bestimmte Klinik. Und da ist ein Zettel einer Bürgerin, die Patientenfürsprecherin an einer Klinik werden möchte. Momentan gibt es 19 solcher Fürsprecher, wir haben aber 54 Kliniken. Da gibt es also Bedarf.
Finden die Kliniken dafür nicht genug Leute? Oder ist das eher eine Frage, ob die Klinik so etwas haben will?
Es ist ein freiwilliges Angebot. Jede Klinik hat ein Beschwerdemanagement, aber Fürsprecher sind noch einmal etwas anderes, die sind eher als Mediatoren tätig. Der kann zum Beispiel der Stationsleitung sagen, wenn etwas mit dem Essen nicht passt, aber der Patient sich nicht traut, etwas zu sagen. Oder er übersetzt sozusagen in die andere Richtung, erklärt Grenzen – warum ein Krankenhaus zum Beispiel ein Rezept nicht rausgeben kann.
"Ich will nicht den Finger in die Wunde legen"
Stehen auf den Zetteln denn neben Fragen auch Probleme?
Nicht ernstgenommen werden kommt oft vor. Der Umgang. "Mein Arzt schaut immer in das Sonografiegerät, wenn er mit mir spricht." Oder "Niemand in der Praxis geht ans Telefon". Und, das ist oft Thema: die Übergänge. Also zum Beispiel vom Krankenhaus nach Hause. Da hat eine Dame angerufen, ihr Exmann hatte eine Lungen-OP, ist jetzt wieder daheim – und hat erst für Dezember einen Reha-Platz bekommen. Er kann jetzt die Treppen zu Hause nicht gehen. Da will ich nicht den Finger in die Wunde legen, was genau schiefgegangen ist, sondern ich vergleiche das mit den anderen Stellen und schaue, ob das ein größeres Thema ist. Und wo die Stadt helfen kann.

Wie entscheiden Sie, wohin Sie sie vermitteln?
Ich erzähle Ihnen mal einen Fall, der zeigt, wie komplex es meistens ist: Da war eine Frau Mitte 70, die hatte Schmerzen am Großzeh. Sie kann nicht richtig auftreten. Sie geht zum Facharzt, der diagnostiziert ihr eine Gicht. Sie hat aber das Gefühl, es ist etwas anderes und sie wird nicht richtig ernstgenommen. Sie bleibt hartnäckig, wendet sich an die Sprechstundenhilfe, besteht auf einem Röntgenbild. Dabei stellt sich eine Fraktur heraus. Der Arzt macht ihr den Therapievorschlag, das konservativ zu behandeln – und sagt dabei laut ihrer Aussage: "Operieren muss man das nicht, Sie werden ja keine Hochleistungssportlerin mehr." Da schwingt für sie mit: Sie bekommt weniger, weil sie alt ist.
So etwas sagt ein Arzt wahrscheinlich oft daher, oder?
Wichtig ist jetzt, nicht zu werten. Wir wissen ja nicht, ob der Arzt sehr gute Gründe hatte. Vielleicht wollte er ihr die Narkose ersparen oder es ist der Standard, das so zu versorgen. Das Wichtige ist: Für die Patientin kommt rüber, dass sie nicht für voll genommen wird.
Wie ging es aus?
Es geht noch weiter! Sie bekommt einen Vorfußentlastungsschuh verordnet. Den holt sie sich, probiert ihn zu Hause aus, kommt damit nicht zurecht – und liest in der Gebrauchsanweisung, dass sie dazu eigentlich noch zwei Gehhilfen bräuchte. Sie stolpert damit also herum, in der Physiotherapie hat man ihr auch nicht erklärt, wie sie richtig damit umgeht, und für sie bleibt am Ende der Eindruck, dass da Geld für einen Schmarrn aus dem Fenster geworfen wird. Sie gibt den Schuh zurück und kauft sich eine Fußsalbe in der Drogerie, mit der es etwas besser wird. Raten Sie, was ihr Anliegen an mich war.
"Die eigentliche Frage ist, wie es weitergeht"
Ob sie die Kosten für die Salbe erstattet bekommt?
Nein, aber das steckt tatsächlich auch noch drin. Was sich in der Kommunikation nach einer Weile zeigte: Ihr eigentliches Problem war die Frage, wie es weitergeht. Falls der Zeh nicht ganz heilt, dass sie dann im Bus vielleicht fällt, sie wohnt ja alleine, und dann noch im teuren München, klar, es gibt Versorgungsmöglichkeiten, aber worauf soll sie sich jetzt einstellen – was soll sie tun?
Das konnten Sie ihr nicht direkt sagen.
Nein. Aber ich habe ihr Stellen genannt, die sie bei einer langfristigen Versorgung zu Hause unterstützen könnten. Wo sie eine Übersicht von Ärzten in ihrer Nähe bekommt, wenn sie eine zweite Diagnose haben möchte. Oder wo es Selbsthhilfestellen gibt, wenn sie mit den chronischen Schmerzen umgehen möchte. Ich bin keine Beratungsstelle, sondern eine Weitervermittlungsstelle. Es geht mir darum, Selbstkompetenz zu stärken. Es gibt viele, die sich nicht trauen, sich an jemanden zu wenden.
Wie geht’s weiter nach der Vermittlung und der Dokumentation der Fälle?
Zum Beispiel soll zweijährlich dem Stadtrat ein Patientenbericht gegeben werden.
Rückmeldung auch für Ärzte
So etwas gab es vorher nicht?
Es gab und gibt einen Patientenfürsprachebericht von den städtischen Kliniken, der wird in Zukunft in meinen integriert. Aber die medizinische Versorgung in München ist ja viel mehr als diese Kliniken. Und es geht darum, sichtbar zu machen, wie es allgemein den Patienten hier geht.
Und die melden sich dann alle bei Ihnen.
Ja, das ist eine Mammutaufgabe, ich weiß.
Was geschieht mit dem Bericht?
Man wird daran sehen, was es für Bedürfnisse gibt. Ob es Versorgungslücken gibt, die die Stadt füllen kann. Oder ob es gar keine Lücken gibt, sondern man die Orientierung für Patienten verbessern muss. Man darf auch nicht immer nur an Ärzte denken, da geht’s auch um therapeutische Betreuungsangebote. Und andersherum: nochmal der Arzt mit dem Großzeh-Fall. Der weiß ja gar nichts davon, was bei der Patientin passiert ist! Wenn sie nicht von sich aus nochmal Rückmeldung gibt, bekommt er davon nichts mit. Alle Versorger können etwas lernen.
Schweiger: "Global denken, lokal handeln"
Was sehen Sie an größeren Themen kommen?
Alter, Krankheit, nehmen Sie noch Armut dazu – München hat, wie wir wissen, hohe Mieten: Das kann ein Themenkomplex sein, der sich eventuell noch herauskristallisiert. Das ist erstmal nur meine Sammlung, aber es deutet schon vieles darauf hin. Zu den Betroffenen würde ich auch Menschen zählen, die nicht akut in Behandlung sind, aber sich fragen "Was passiert, wenn ich kränker werde?"
Die Dinge, die Sie angesprochen haben – Umgang, Betreuung, Kommunikation – sind nichts Exotisches. Ärzte wissen das ja. Sind wir nicht an einem Punkt, wo die Debatte um Zeit und Geld und Personalmangel im Gesundheitssystem von oben Druck ausübt?
Dann behandeln Sie ja im Grunde einfach sehr viele Symptome. Da, wo ich herkomme, aus der Ethnologie, geht es darum, Kontexte zu erkennen. Es gibt so eine Phrase, die nicht ganz passt, aber trotzdem: "Global denken, lokal handeln." Ich weiß aus meinem Beruf als Physiotherapeutin, wie es ist, im 20-Minuten-Takt zu behandeln. Patienten kann ich so nicht mehr gerecht werden. Man kann von einem Arzt trotzdem erwarten, dass er innerhalb der Bedingungen mitdenkt. Es ist vor allem wichtig zu wissen, wann etwas ein Thema ist für Patienten. Wie man das dann löst, ist etwas anderes.
So kann man selbst für Zufriedenheit sorgen
Haben Sie da Ideen?
Vielleicht zieht einer daraus seine Konsequenzen und macht eine Schulung. Aber Lösungen sind sehr schwierig, das Gesundheitswesen ist komplexer als der Kauf einer Waschmaschine. Denn da wirken Dinge auf Bundesebene, auf Länderebene und auf Stadtebene. Handlungsspielräume haben Grenzen, und manchmal muss man versuchen, die gemeinsam zu erweitern.
Nochmal zu Ihnen beim Arzt: Fühlten Sie sich da gut aufgehoben?
Der hat eine sehr besondere Art, aber ich hab ihn mir ja ausgesucht. Es sucht sich halt jeder seinen eigenen Weg. Das ist auch meine Vision für die Münchner Patienten, ach, eigentlich für alle: dass sie selber ihren Weg finden. Das beinhaltet ein Stück Mut, weil man Dinge gegenüber denen ansprechen muss, von denen man sich abhängig fühlt. Und ideal wäre, wenn es vor Ort passiert. Man kann so viel Schaden abwenden und für Zufriedenheit sorgen dadurch. Nicht nur für sich selbst.