Erst Wurstküche, dann Christkindl
Wie war Heiligabend eigentlich früher? In der AZ erzählen Münchner ihre Geschichten aus der Kindheit. Heute ist das Politiker Josef Schmid.
Unser Christkind schaute an Heiligabend erst einmal in sehr müde Augen. Nicht, weil es sich immer verspätete, sondern weil Weihnachten bei uns völlig anders verlief als in den meisten anderen Familien. Bis zwölf Uhr mittags herrschte nämlich jedes Jahr maximaler Hochbetrieb in der Metzgerei meiner Eltern. Um den Ansturm unserer lieben Kundinnen und Kunden zu bewältigen, mussten auch mein Bruder und ich mit ran. Wir werkelten also ab in der Früh um vier in Wurstküche und Kühlung, später im Laden. Als wir kleiner waren, wurden wir mit Hilfsdiensten wie etwa Bestell-Packerl raustragen betraut, später durfte ich an die Kasse im Laden.
Ich erinnere mich noch gut, dass ich im Schnitt mindestens 30 vorbestellte Gänse an die Kasse schleppen musste, von verschiedenen Lagerorten her. Ganz schön schwer, so eine Gans.
Nachdem wir um 12 Uhr geschlossen, aufgeräumt und geputzt hatten, fand ein Alltags-Aus- und Weihnachts-Einklang statt. Mit unseren Angestellten saßen wir in der Küche bei Lebkuchen, Glühwein und Plätzchen. Endlich Weihnachten, dachte ich da immer. Jetzt könnte auch das Christkind kommen, bevor mich die Müdigkeit übermannt.
Am frühen Abend stand ich mit müden Augen, aber trotzdem gespannt vor der abgeschlossenen Wohnzimmertür. Vorher war ich schon leise ums Haus geschlichen in der Hoffnung, das Christkind zu ertappen, wie es ins Wohnzimmer oder wieder davon fliegt. Einmal hing sogar Lametta aus dem geschlossenen Fenster, für mich der Beweis, dass das Christkind auch wirklich da war. Und endlich, kurz bevor ich vor der Wohnzimmertür beinahe eingeschlafen wäre, ertönte von innen das helle Weihnachtsglöckchen.
Natürlich war die Müdigkeit wie weg gefegt. Als wir endlich in unser Wohnzimmer durften, wo meine Mama und mein Papa auf wundersame Weise schon warteten, die Kerzen am Baum warm leuchteten, die Krippe mit Maria, Josef, dem Jesuskindlein, den Hirten, Schafen, Ochs und Esel aufgestellt war, das Geschenkpapier raschelte, wurde Weihnachten auch für uns wahr.
Weil ich Orgel spielen kann, durfte ich den Weihnachtsgesang der gesamten Familie begleiten, denn auch meine Oma und mein Onkel waren meistens dabei. Und dann durften wir unsere Geschenke auspacken. Meistens aß ich danach noch ein paar Plätzchen, bevor ich müde, aber glücklich ins Bett fiel.
Eine Gans gab es an Heiligabend bei uns übrigens nie.
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