Erschreckende Zahlen: Mehr Drogentote in München als in Frankfurt

86 Münchner sind in den letzten zwölf Monaten an Drogen gestorben. In Frankfurt waren es nicht mal halb so viele. Eine Betroffene erzählt, warum ein Konsumraum helfen würde.
von  Christina Hertel
Unter anderem im Problemviertel rund um den Hauptbahnhof werden Drogenkonsumräume gefordert. (Archivbild)
Unter anderem im Problemviertel rund um den Hauptbahnhof werden Drogenkonsumräume gefordert. (Archivbild) © Felix Hörhager/dpa

München - In den vergangenen zwölf Monaten sind 86 Menschen in München an Drogen gestorben. "Jeden Fünften kannte ich persönlich", sagt Thekla Andresen (42). Eine Freundin sei am Hauptbahnhof verstorben, alleine, in irgendeinem dunklen Eck. Vier Monate später verstarb ihr Partner auch alleine in seiner Wohnung.

Diesen Freitag wird Thekla Andresen auf dem Marienplatz alle 86 Namen verlesen. Jedes Jahr wird dort am 21. Juli an die Drogentoten gedacht. Und jedes Jahr wird die Liste der Namen länger. 2019 waren es 53, 2020 63, 2021 73 und heuer sind es 86 Tote. Noch nie, sagt Thekla, waren so viele Bekannte dabei, noch nie war dieser Tag für sie so schwer.

Drogen in München: Betroffene spricht in der AZ

Thekla Andresen leitet in München die Selbsthilfegruppe JES. Das steht für Junkies, Ehemalige und Substituierte. Mit 14, so erzählt sie es, haute sie von daheim ab. "Viele fragen mich, was bei mir in der Kindheit schief gelaufen ist", sagt Andresen. "Aber da ist eigentlich nicht viel schief gelaufen. Meine Mutti hat mich ganz doll lieb gehabt." Sie sei abenteuerlustig gewesen, neugierig, immer mit den Punks unterwegs.

Bald sei sie von der Straße weg und in eine Einrichtung für Jugendliche gekommen. "Für viele war dort die Endstation, für mich war dort der Anfang", sagt Thekla Andresen. Hinter jeder Tür habe es dort Drogen gegeben. Und sie nahm dort zum ersten Mal in ihrem Leben Heroin. "Ich war jung und dumm und wollte dazu gehören", sagt die 42-Jährige heute.

Seit 2000 macht Andresen eine Substitutionsbehandlung. Das heißt, sie bekommt einen Stoff, der das Heroin ersetzt. Sie wird nicht mehr high davon, ihr wird bloß noch ein bisschen warm, sagt sie. Aber Entzugserscheinungen spüre sie auch keine.

"Leute gehen auf den Strich, Leute klauen" – was Menschen für Drogen tun

Die zwei Jahre, bevor sie die Substitution anfing, seien die schlimmsten gewesen. "Schon morgens nach dem Aufstehen drehte sich alles um die Droge", erzählt Andresen. Irgendwie die Reste zusammenkratzen, irgendwo Geld herkriegen. "Leute gehen auf den Strich, Leute klauen", sagt Andresen. Was sie selbst davon tat, sagt sie nicht.

Aber auch sie habe ihre Freiheit an die Drogen verloren. Weil sie sonst gefroren und gleichzeitig geschwitzt hätte, weil ihre Beine sonst fürchterlich geschmerzt hätten. Weil sie sonst rastlos gewesen wäre und nachts nicht mehr geschlafen hätte. Sechs Wochen lang habe sie nie länger als 20 oder 30 Minuten die Augen zugemacht, sagt Andresen.

Die Polizei ließ ihr damals die Wahl: Gefängnis oder Therapie

Mit 18 habe sie dann die Substitution begonnen. Die Polizei habe ihr damals die Wahl gelassen: Gefängnis oder Therapie. Andresen entschied sich für Letzteres. "Ich habe von Anfang an genossen, dass ich meine Freiheit zurück habe", sagt sie der AZ.

Von den Drogentoten kennt Thekla Andresen auch deshalb so viele, weil sie im Kontaktladen "limit" von der Organisation Condrobs arbeitet. Menschen mit einem Drogenproblem oder deren Angehörige können hier eine warme Mahlzeit oder Rat finden.

Drogenkonsumräume für München gefordert

Andresen ist überzeugt, dass diese Liste der Verstorbenen, die sie am Freitag vorliest, nicht so lang sein müsste. Wenn sich Süchtige nicht in Parks oder Hauseingängen verstecken müssten. Wenn es sichere Orte für sie gäbe. Wenn die Politik in Bayern eine andere wäre.

Wegen dieser vielen Wenns gehört Andresen zu den Unterstützern einer neuen Petition für einen Drogenkonsumraum in München. Dort können Menschen, die zum Beispiel von Heroin abhängig sind, mit sauberem Besteck, in einem sauberen Raum konsumieren. Mediziner können im Notfall helfen. Auch Olaf Ostermann von Condrobs fordert schon lange solche Räume – im Bahnhofsviertel, in Neuperlach, Schwabing und Pasing.

Petitions-Auftakt im Nußbaumpark an der Matthäuskirche für Drogenkonsumräume in München (v. l.): Linken-Chef Stefan Jagel , SPD-Stadtärin Barbara Likus und Grünen-Stadträtin Clara Nitsche.
Petitions-Auftakt im Nußbaumpark an der Matthäuskirche für Drogenkonsumräume in München (v. l.): Linken-Chef Stefan Jagel , SPD-Stadtärin Barbara Likus und Grünen-Stadträtin Clara Nitsche. © Daniel von Loeper

Bayerische Staatsregierung erteilt Konsumräumen 2021 eine Absage

Dass das nötig ist, beweisen für ihn die Zahlen: In zehn deutschen Städten gibt es Drogenkonsumräume. Frankfurt hat vier, Bayern gar keinen. "Vor 25 Jahren gab es in Frankfurt 120 Drogentote im Jahr. Jetzt sind es 20 bis 30", sagt Ostermann. Also nicht einmal halb so viele wie in München.

Zu den Initiatoren der Petition gehören Stadträte der Grünen, der SPD und der Linken. Bereits seit Jahren ist sich der Stadtrat einig, dass ein Drogenkonsumraum für München eine gute Idee wäre. Sogar die CSU war dafür. Doch dann erteilte die bayerische Staatsregierung dem Projekt 2021 eine Absage.

Ob es Hoffnung gibt, dass die Staatsregierung bald ihre Meinung ändert, wenn nur genug Menschen die Petition unterschreiben? Kommentieren will der CSU-Stadtrat Hans Theiss das so kurz vor der Landtagswahl nicht. Theiss ist Mediziner. 2018 war er noch der Meinung, dass München einen Drogenkonsumraum mit wissenschaftlicher Begleitung ausprobieren sollte.

Petition für Drogenkonsumräume soll nach der Wahl in den Landtag

"Drogenkonsum findet statt und dieser Realität sollte sich auch der Freistaat stellen", sagt SPD-Stadträtin Barbara Likus. Viele sehen das genauso: Zu den Unterstützern der Petition gehören Ärzte, Gewerkschaften und die FDP. In den Landtag einbringen wollen sie die Petition aber erst nach der Wahl, sagt Grünen-Stadträtin Clara Nitsche. Sie hofft, dass sich dann die Mehrheiten so verändert haben, dass die CSU die Forderung nicht mehr abschmettern kann.

Auch Thekla Andresen hofft auf den Konsumraum. Alle paar Jahre, sagt sie, passiert ihr ein Ausrutscher. "Und dann würde ich gerne mit dem Leben davon kommen."

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