Erinnerungen einer 100-Jährigen

MÜNCHEN - Marylka Bender kennt München, seit sie fünf Jahre alt ist. Damals bestimmten Pferdekutschen das Straßenbild. Es war 1914, der Erste Weltkrieg stand kurz bevor. Ihre Eltern zogen aus einer polnischen Grenzstadt in die Kunststadt an der Isar. Im vergangenen Jahr schrieb sie ein philosophisches Buch
Jetzt feiert die Malerin, Schriftstellerin und Tochter des seinerzeit bekannten jüdischen Reklamemalers Stanislaus Bender ihren 100. Geburtstag. Dabei wirkt sie viel jünger. „Ab jetzt zähle ich wieder von eins,“ sagt sie. An den Wänden ihrer Wohnung am Rotkreuzplatz lehnen und hängen ihre aktuellen Zen-Zeichnungen. Ihr absolutes Lieblingsmotiv: Katzen.
Die meiste Zeit ihres Lebens verbringt Bender in Paris. Erst Mitte der 90er-Jahre fasst sie endgültig wieder in München Fuß. Mit der Stadt verbindet sie viele Kindheits- und Jugenderinnerungen. Hier geht Marylka, das Schwabinger Mädchen mit den langen blonden Haaren und blauen Augen, zur Volksschule. Die Hundertjährige erinnert sich lebhaft: „Eigentlich hätte ich in der Türkenstraße zur Schule gehen sollen. Doch das Gebäude war für den Krieg umfunktioniert. Also wurden wir Erstklässler in der Universität unterrichtet. Um uns rum lauter Studenten, wir hatten leise zu sein.“
Später schließt sie die Realschule ab und lernt im Atelier ihres innig geliebten Vaters zeichnen. Ihre Mutter stirbt 1919, da ist Marylka gerade mal neun Jahre alt. 1935 trifft Marylka ihren späteren Mann Christian Kellerer bei einem Französischkurs in München. Das 26-jährige jüdische Mädchen und der gleichaltrige Philosoph und Bauingenieur werden ein Paar. Eine romantische Liebesgeschichte in dramatischen Zeiten.
„Er hatte ein kleines, klappriges Auto“, erinnert sich Bender. „Jedes Wochenende haben wir Spazierfahrten gemacht.“ Doch bald nach dem Kennenlernen verhängt die Nazi-Regierung in Deutschland die Rassengesetze. Marylka flieht mit ihrem Vater zuerst nach Paris und später nach Südfrankreich. In den ersten Monaten der Trennung schreiben sich Marylka und Christian noch Briefe. Dann kommt der Zweite Weltkrieg. Sechs Jahre lang weiß keiner der beiden, ob der andere noch lebt.
Doch nach Kriegsende schreibt Christian wieder an Marylka. 1948 heiraten sie in München. In den 50 Jahren, die sie bis zu Kellerers Tod 1998 verheiratet sind, leben sie abwechselnd in Paris und in der kleinen Münchner Bude, die Christian so am Herzen liegt. „Paris war meine Stadt“, erzählt die Witwe, die in den 60er-Jahren einen Verlag für Glückwunschkarten besaß. „München die Stadt meines Mannes“.
Nach dem Tod ihres Mannes hat sich Marylka Bender intensiv mit seinem philosophischen Werk beschäftigt. Sie kennt es wie kein Zweiter. In ihrem aktuellen Buch „Das Geheimnis des ansteckenden Lachens“, das pünktlich zu ihrem 100. Geburtstag erscheint, geht sie auf Spurensuche und behandelt die philosophischen Ideen ihres Mannes.
Vanessa Assmann