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Erinnerungen an Olympia '72: "Die Welt zu Besuch - klasse!"

Mit nur 17 Jahren arbeitet der Autor bei den Olympischen Spielen. Heute ist er mit einer ehemaligen Hostess zusammen.
von  Axel Birkmann
Axel Birkmanns Arbeitsplatz: Die Journalisten mit Neuigkeiten versorgen. Klein: Karten und Birkmanns Pass.
Axel Birkmanns Arbeitsplatz: Die Journalisten mit Neuigkeiten versorgen. Klein: Karten und Birkmanns Pass. © Birkmann

München - Für mich als 17-Jährigen war 1972 das Jahr schlechthin, denn in den Sommerferien durfte ich erst mit meiner Mutter und meinem Bruder an die Ostsee in den Urlaub fahren, in der zweiten Hälfte der Ferien am größten sportlichen Ereignis der Nachkriegszeit in Deutschland teilnehmen: den Olympischen Spielen in München.

In unserer Schule hing eines Tages eine Bekanntmachung, dass das olympische Komitee für die Sommerspiele in München Helfer suchte. Die Aufgabe: Betreuung von Journalisten und Ehrengästen, Botengänge und mehr. München, dachte ich, eine Großstadt. Die ganze Welt zu Besuch - klasse! Ich bewarb mich und wurde genommen. Drei Wochen München, ganz allein.

In Schwabing traf sich die Welt 

Mein Platz würde im Herzen der Spiele, im Olympiastadion sein. In München war die Welt zu Gast. Asiaten, Afrikaner, Südamerikaner, Amis und Australier und viele mehr. In Schwabings Kneipen und Szenelokalen traf sich die Welt.

Meine Aufgabe im Stadion war einfach. Es gab unter dem Zeltdach einen Bereich für Journalisten. Sie wurden von uns mit Neuigkeiten versorgt. Das Internet war noch nicht erfunden, und so wurden die wichtigsten Ereignisse der Spiele im Bauch des Stadions erfasst, gesetzt und gedruckt. Diese Newsletter verteilte ich in den Reihen 5-8. Da soweit unten fast nie jemand saß, hatte ich nicht viel zu tun.

Untergebracht war ich in einer Schule in Milbertshofen. Mehrere Helfer in einem Zimmer. Duschen in der Turnhalle. Unsere Berufskleidung, weiße Mustang Jeans und Jacke, gelbe Polyestersocken - Achtung Schweißfußgefahr! - gelbe T-Shirts und Basketballschuhe.

Alle Helfer hatten unterschiedliche Dresscodes

Es gab drei große Helfertruppen: wir, die Nachrichtenboys und die Mofa-Mädchen, Kontrolleure und Platzanweiser in orangefarbener Uniform, und die Bereitschaftspolizei, alle in hellblauem Anzug mit weißer Schiebermütze.

Es gab auch Hostessen, aber die waren für uns damals zu alt. Heute lebe ich mit einer ehemaligen Hostess von 1972 zusammen. Auch gab es zwei Arten von Kontrolleuren: die hellblau gekleidete Bereitschaftspolizei, in unserer Terminologie die "Floggys", und die Platzanweiser, in Orange. Sie nannten wir die "Trolos". Ob sie uns auch einen Namen gegeben haben, weiß ich nicht.

In der Arbeitsuniform vor der Unterbringung.
In der Arbeitsuniform vor der Unterbringung. © Birkmann

"Hatte die Möglichkeit, viel von den Wettkämpfen zu sehen"

Es kannte sich keiner von den beiden Gruppen mit dem Ausweissystem aus. So hatte ich während der Spiele die Möglichkeit, in meiner Freizeit viel von den Wettkämpfen zu sehen. Da die "Trolos" nur meinen Ausweis sahen, aber nicht die genauen Begrenzung kannten, konnte ich fast alle Sportstätten besuchen.

Das einzige Areal, das mir versperrt war, war das olympische Dorf der Frauen, während ich fast jeden Abend im olympischen Dorf der Männer, den Nightclub, den "Bavarian Club" besuchte. Wahrscheinlich der einzige in München, in dem kein Alkohol ausgeschenkt wurde, dafür waren alle Softdrinks kostenlos.

In den Arenen war es nicht möglich, auf den Rängen zu sitzen, weil die Karten fast restlos ausverkauft waren. So nahm ich den Eingang für Journalisten. Da waren Plätze mit Tisch und Fernseher. So konnte ich dem Geschehen in der Arena folgen, aber auch den Fernseher beobachten.

Nach den Wettkämpfen ging es in "In-Tempel"

Ich verbrachte meine freien Tage in den Arenen. Nachts ging es oft in die Boxhalle. Die Halle brodelte, wenn es mal wieder eine für die Zuschauer einsehbare Fehlentscheidung gab, dann pfiffen und brüllten die 7.000.

So hatten Dritte-Welt-Staaten gegen Europäer oder Nordamerikaner kaum eine Chance, selbst, wenn sie besser boxten. Die Boxkämpfe in der Halle neben dem Olympiaturm waren die letzten Wettkämpfe des Tages. Danach ging es nach Schwabing, ins Arabella, in den Drugstore oder einen anderen In-Tempel.

Dann kam der 4. September. Ich genoss den Abend, feierte die zwei Goldmedaillen für die deutschen Athleten. Kannenberg hatte das 50-km-Gehen gewonnen und Wolfermann das Speerwerfen. In einem Duell hatte er den Favoriten um nur zwei Zentimeter geschlagen. Aber ich verließ das Stadion noch nicht. Auch die anderen Zuschauer blieben. Im Hochsprung der Frauen war die Entscheidung noch nicht gefallen. Ein 16-jähriges Mädchen aus Köln trotzte der Weltrekordlerin. Ulrike Meyfahrt übersprang die 1,92 Meter - Gold und Weltrekord.

Ich beendete den Abend im Bavarian Club und auf dem Markt, einer Tauschbörse im Dorf, an der Anstecknadeln, Poster und Schnickschnack die Besitzer wechselten.

Am 5. September änderte sich alles 

Doch die friedlichen Spiele wurden am 5. September zerstört. In der Nacht kam die Meldung: Palästinensische Terroristen waren in das Olympische Dorf eingedrungen. Im israelischen Quartier überwältigten sie 13 Athleten, wobei sie zwei töteten.

Ich wusste davon nichts. Ich hatte mir Olympia-Utensilien geschnappt und war auf dem Weg ins Olympische Dorf. Es war neun Uhr morgens. Zwei Arbeitskollegen hielten mich auf: "Wo willst du hin?" - "Ins Dorf, auf den Tauschmarkt, ich habe frei und noch so viel Olympiazeugs übrig." - "Das geht nicht. Das Dorf ist zu. Terroristen sind dort." Ich glaubte ihnen nicht und wollte weitergehen. Sie hielten mich am Ärmel meiner Jacke fest: "Es stimmt. Komm mit zum Hausmeister, der hat einen Fernseher. Da kannst du alles sehen."

Hier wohnte Birkmann - zusammen mit mehreren anderen.
Hier wohnte Birkmann - zusammen mit mehreren anderen. © Birkmann

Langsam merkte ich, dass meine Beine weich wurden. In unserer Unterbringung hatte der Hausmeister einen Glaskasten, in dem er den ganzen Tag saß. Er hatte die Aufgabe, darauf zu achten, dass die Duschen funktionierten, wir keine Trinkgelage abhielten und keine Mädchen in unsere Unterkünfte schleppten. Damit er das übersteht, hatte man ihm einen Fernseher in sein Kabuff gestellt. Die Kiste lief den ganzen Tag mit Olympia, Olympia und Olympia. Heute Morgen lief kein Olympia.

"Plötzlich tauchte ein weiterer Mann auf und fuchtelte mit einer Pistole"

Auf dem kleinen Bildschirm konnte ich Polizisten und Reporter vor dem Zaun des Olympischen Dorfes sehen. Doch galt mein Blick einem Mann im Trainingsanzug. Er stand auf einem Balkon, eine Mütze über das Gesicht gezogen. Durch zwei Schlitze konnte er die Ansammlung von Menschen erkennen. Über die Schulter trug er ein Gewehr. Plötzlich tauchte neben ihm ein weiterer Mann auf, mit einer Pistole fuchtelte er damit in Richtung der Polizisten und Kameraleute. Ich starrte gebannt auf den Bildschirm.

Mir ging viel durch den Kopf. Ich entschied, in die Nähe des Dorfes zu gehen, um das Ganze mitzubekommen, in der Hoffnung, es auch zu verstehen.

Die Spannung war unerträglich. Ich stand in Entfernung vom Maschendrahtzaun und Tränen flossen. Ich, ein 17-Jähriger, starrte auf den Platz, den ich so genossen hatte. Tanzen. Schmusen. Kuscheln in den langen Sitzwürsten des Bavarian Clubs.

"Ich bewegte mich kaum von der Stelle"

Ich war wie viele andere überfordert mit der Situation. So nah an Tod und Terrorismus war ich nie gewesen. Ich bewegte mich kaum von der Stelle. Mittlerweile war es Abend und vor dem Zaun hatte die Polizei Scheinwerfer und Absperrungen aufgebaut. Am Abend hieß es, eine Vereinbarung sei zustande gekommen. Mit einer Polizeieskorte sollten die Terroristen samt Geiseln zum Flughafen Fürstenfeldbruck gebracht werden.

Von uns aus sah das gespenstisch aus: Blaulicht und Scheinwerfer, dann Dunkelheit. Gegen halb zwölf kam die vermeintlich erlösende Meldung: Die Geiseln befreit, die Terroristen tot! Doch am Morgen die Wahrheit: Alle Geiseln waren ums Leben gekommen. Von den Terroristen überlebten drei. Die Spiele wurden unterbrochen. Im Olympiastadion wurde eine Trauerfeier abgehalten.

Heiß wurde diskutiert, ob man die Spiele abbrechen soll - erbittert auch zwischen uns Helfern. Die Mehrheit war gegen den Abbruch. Spät rang man sich zu einer Entscheidung durch. In der Trauerfeier vor schweigenden Athleten und 60.000 Besuchern erklärte Olympia-Präsident Avery Brundage: "The Games must go on!" Die Spiele gingen weiter, aber heitere Spiele wurden es nicht mehr.

Den Rest des Tages verbrachte ich beim Schallplatten stöbern. Das Resultat, "Tapestry" von Carole King mit melancholischen Songs. Den Abend verbrachte ich mit Kollegen trübselig bei Pizza und Bier und den Songs von King. Die Stimmung war gedrückt.

"Am Ende der Abschlussfeier erhoben sich die Gäste, um den Opfern zu gedenken"

Nach der Geiselnahme wurde die Abschlussfeier abgewandelt. Die Athleten zogen ins Stadion ein, Brundage erklärte die Spiele für beendet und rief die Jugend auf, sich in vier Jahren in Montreal zu versammeln, um die Olympischen Spiele 1976 zu feiern. Um 20.02 Uhr erlosch die Flamme. Anschließend erhoben sich die Zuschauer, um der Opfer des Anschlags zu gedenken. Bei spärlicher Beleuchtung wurde die Olympiaflagge eingeholt und aus dem Stadion getragen. Dann herrschte Dunkelheit. Plötzlich strahlte ein riesiger Kunststoffschlauch als Regenbogen über dem Stadion.

Ich war traurig. Einerseits, weil die Ferien vorbei waren. Andererseits weil ich die Stadt verlassen musste, die mir so ans Herz gewachsen war: München. Ich ging ins Dorf, in den Bavarian Club. Da wurde das erste Mal Alkohol ausgeschenkt. Es gab Bier, Hendl, Würstchen und Brezn. Meine letzten Minuten in München. Diese Stadt hatte die ganze Welt als Gast aufgenommen. Das sind die Erlebnisse eines 17-Jährigen, der so seine Traumstadt erleben durfte.

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