Erinnerungen an Hans-Jochen Vogel: Konkret und visionär

Neue AZ-Serie: Reportlegende Karl Stankiewitz erinnert an die Amtszeit von Hans-Jochen Vogel als OB. Heute: Wie Vogel 1968 den Konflikt mit Studenten befriedete.
von  Karl Stankiewitz
Als Schlussredner stellte er die Weichen auf Deeskalation: Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel spricht bei einer Demonstration vor 10.000 protestierenden Studenten auf dem Königsplatz nach den Osterunruhen, die kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in München ausgebrochen waren.
Als Schlussredner stellte er die Weichen auf Deeskalation: Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel spricht bei einer Demonstration vor 10.000 protestierenden Studenten auf dem Königsplatz nach den Osterunruhen, die kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in München ausgebrochen waren. © SZ-Photo

München - Es war Anfang 1956, als uns Stadtreportern ein junger Mann auffiel, der bis dahin in einem Hinterzimmer der Staatskanzlei über uralten Landesgesetzen büffelte, um sie im Auftrag des SPD-Ministerpräsidenten Professor Wilhelm Hoegner zu "bereinigen". Da auch das Münchner Stadtrecht dringend einer solchen Entlüftung bedurfte, kürten die Ratsherren der Metropole den Paragrafenritter, der das Juristische Staatsexamen als Bester von 372 Bewerbern bestanden hatte, 1958 zum städtischen Rechtsreferenten.

Und als das knapp 74 Jahre alte Stadtoberhaupt Thomas ("Damerl") Wimmer 1960 Amtskette und Bierschlegel niederlegte, bestimmte er den knapp 34 Jahre alten Juristen zum Nachfolger. Vogel wurde zum großen Reformer und Gestalter – in Stadt, Land und Bund.

Unzählige Artikel habe ich veröffentlicht über den Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker Hans-Jochen Vogel, über seine Leistungen und auch über seine Probleme, die vielleicht nicht immer durch Andere verschuldet waren. Über die Lernbereitschaft des "Oberlehrers", wie er sich selbstironisch nannte, etwa bei den Schwabinger Krawallen 1962, und über seinen mäßigenden Einfluss bei den Studentenunruhen von 1968. Über die von ihm und seinem Zweitbürgermeister Georg Brauchle vorbereiteten Olympischen Sommerspiele 1972 und den Ausbau des Schnellverkehrsnetzes auf 420 Kilometer. Über die beispielhafte Stadtentwicklung mit Fußgängerzonen und Trabantenstädten. Überhaupt über seinen Einsatz für "mehr Lebensqualität".

Führende Politiker und radikale Studenten an einem Rednerpult

Vogel revanchierte sich, indem er mir 1972 "zur Erinnerung an die Jahre gemeinsamer Arbeit für unsere Stadt" sein Buch "Die Amtskette" schenkte und mir Beiträge für eigene Bücher schrieb. In vier Beiträgen will ich für diese AZ-Serie versuchen, an besonders eindrucksvolle Ereignisse und Begegnungen zu erinnern.

Seit den Schwabinger Krawallen im Juni 1962 hat man in München im Umgang mit jungen Rebellen mehr als in anderen Städten gelernt. Und musste trotzdem die beiden einzigen Todesopfer der Osterunruhen 1968 beklagen. Die bayerische Metropole gab dann aber noch einmal ein gutes Beispiel für eine mögliche Konfliktlösung.

Aussprache über die Oster-Demos im Rathaus. Rechts sitzen die Vertreter der Studenten (v.l.): der Vorsitzende des AStA der TH Gerd-Jan Nibbrig, Rolf Pohle von der Rechtshilfe der APO, Benno Pietrzak vom AStA des Polytechnikums und Gerd Bücher, der Pressereferent des AStA.
Aussprache über die Oster-Demos im Rathaus. Rechts sitzen die Vertreter der Studenten (v.l.): der Vorsitzende des AStA der TH Gerd-Jan Nibbrig, Rolf Pohle von der Rechtshilfe der APO, Benno Pietrzak vom AStA des Polytechnikums und Gerd Bücher, der Pressereferent des AStA. © SZ-Photo

Zum ersten Mal standen am 24. April jenes dramatischen Jahres führende Politiker und radikale Studentenführer gemeinsam an einem Rednerpult. Vorher waren Taktiken, Strategien und Gegenmaßnahmen im Zeichen eines Zeitumbruchs nur in "Sit-ins" von Hochschulmensen oder Wirtshaus-Hinterzimmern verhandelt worden. Oder, auf der anderen Seite, in Amtsstuben im Rathaus oder des Polizeipräsidiums – und natürlich in den Redaktionen der Zeitungen.

Der Mann, der den Ausbruch aus den Wagenburgen wagte und einen Akt der Versöhnung einleitete, war kein anderer als Hans-Jochen Vogel, der als Oberbürgermeister in acht Jahren zahlreiche Neuerungen in der Stadtverwaltung durchgesetzt hatte. Vogel war der Schlussredner, nachdem andere Exponenten des sogenannten Establishments von den 10.000 Studenten und deren Sympathisanten mehr Pfiffe als Applaus bekommen hatten.

Angesichts des "konservativ-reaktionären Trends" in der Bundesrepublik, wie ihn auch der Münchner Gewerkschaftsboss Ludwig Koch beklagte, wollten sie sich nicht mit allgemeinen Beschwichtigungsformeln abspeisen lassen.

"Erstens, zweitens, drittens" – so pflegte er zu argumentieren

Vogel wurde konkret – erwies sich aber auch als Visionär. Er hob ein Stück Papier hoch und beantwortete – "erstens, zweitens, drittens", wie es immer seine Art der Argumentation war – die Fragen eines Studenten zum Einsatz der Polizei bei Demonstrationen gegen die hetzerische Springer-Presse.

Er beklagte, dass viele verantwortliche Politiker immer noch einem Gespräch mit den Studenten aus dem Weg gingen. Und er übte Selbstkritik, denn er war zeitlebens ein Mann des Zuhörens und des Lernens. "Wir haben in München unser Lehrgeld bezahlen müssen", bekannte er im Rückblick auf 1962, als er seinen allzu schneidigen Polizeipräsidenten Anton Heigl feuerte, den charmanten Kripochef Manfred Schreiber einsetzte und für die Polizei eine flexiblere, liberale "Münchner Linie" erarbeiten ließ.

Während die Massen – viele sichtlich nachdenklich – den Königsplatz räumten, ohne dass ein einziger Polizist "nachhelfen" musste, diskutierten Vogel, andere junge Politiker und ein paar Journalisten auf den Stufen der Neuen Staatsgalerie mit jungen Bürgern weiter. "Die Energien, die jetzt freigeworden sind, sollten nicht zerstören, sondern aufbauen," notierte ich. Und auch diesen Satz, der seine bis zum Tod anhaltende Unerbittlichkeit gegen Feinde der Demokratie ausdrückte: "Die extreme Rechte, von der wir schon einige Kostproben erlebten, sieht in diesen Tagen ihre Saat reifen, und wartet auf ihre Stunde."

Später diktierte mir Vogel sein optimistisches Fazit in den Block: "Ich ging damals mit der Hoffnung nach Hause, dass der Prozess der Polarisierung und Gewaltanwendung nun doch durch Diskussionen und und Vernunft zum Stehen gebracht werden könne... Es gab in der jungen Generation eine unglaubliche Bereitschaft, sich zu solidarisieren, sich persönlich zu äußern, für oder gegen etwas zu demonstrieren. Das war bis dahin nicht selbstverständlich."

14. Juni 1969: Bayern ist Meister – und OB Hans Jochen Vogel gibt den Fans Autogramme auf ihre Eintrittskarten.
14. Juni 1969: Bayern ist Meister – und OB Hans Jochen Vogel gibt den Fans Autogramme auf ihre Eintrittskarten. © imago

Abschied von Hans-Jochen Vogel Kondolenzbuch und Beflaggung

Die Münchner haben ab sofort die Gelegenheit, sich mit Beileidsbekundungen oder Erinnerungen in das Kondolenzbuch für den verstorbenen Alt-OB Hans-Jochen Vogel einzutragen. Dieses liegt im Rathaus im Durchgang zum Prunkhof bis zur Trauerfeier aus. Die Eintragungszeiten sind Montag bis Freitag von 7 bis 19 Uhr sowie Samstag und Sonntag von 10 bis 17 Uhr. Aufgrund der Corona-Maßnahmen müssen Bürger einen eigenen Stift mitbringen.

Wo und wann die Trauerfeier stattfinden wird, konnte das Presseamt der Stadt auf AZ-Anfrage noch nicht beantworten. Allerdings könne man davon ausgehen, dass Hans-Jochen Vogel als Ehrenbürger auch ein Ehrengrab bekomme, deutete das Presseamt an.

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