Update

"Erinnern muss jeden Tag passieren": 40 Jahre nach dem Anschlag auf die Münchner Diskothek Liverpool

Am 7. Januar 1984 verübten zwei Rechtsextremisten einen tödlichen Brandanschlag auf die Münchner Diskothek Liverpool. Die Tat der "Gruppe Ludwig" führt uns auf erschreckende Weise in die Gegenwart.
von  Guido Verstegen, Felix Müller
Blick in die menschenleere Schillerstraße: Am Sonntag ist es 40 Jahre her, dass zwei Rechtsextremisten die Münchner Diskothek Liverpool in Brand setzten. Sie fügten sieben Menschen schwere und der Garderobenfrau Corinna Tartarotti tödliche Verletzungen zu. (Archivbild)
Blick in die menschenleere Schillerstraße: Am Sonntag ist es 40 Jahre her, dass zwei Rechtsextremisten die Münchner Diskothek Liverpool in Brand setzten. Sie fügten sieben Menschen schwere und der Garderobenfrau Corinna Tartarotti tödliche Verletzungen zu. (Archivbild) © Felix Hörhager/dpa

München - Seit 2019 lädt die Antisexistische Aktion München nun schon zu einer Gedenkkundgebung vor dem ehemaligen Diskothek Liverpool ein, um an den rechtsterroristischen Anschlag der "Gruppe Ludwig" zu erinnern, bei dem am 7. Januar 1984 die damals 20-jährige Corinna Tartarotti so schwer verletzt wurde, dass sie am 25. April verstarb. Sieben weitere Menschen wurden schwer verletzt. 

40. Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags der "Gruppe Ludwig": Münchens Bürgermeister Krause legt Kranz nieder

Zum 40. Jahrestag nimmt nun die Stadt in Abstimmung mit der Initiative die Sache in die Hand: Am Sonntag startete ein zweiwöchiges Gedenken mit einer Kranzniederlegung vor dem Gebäude in der Schillerstraße 11a.

Darüber hinaus gibt es in den kommenden Tagen noch weitere Veranstaltungen wie Gespräche, Lesungen oder Rundgänge in der Reihe. Sie endet am 23. Januar mit einem Vortrag, in dem der Geschichtsprofessor Massimiliano Livi (Universität Trier) am Italienischen Kulturinstitut das Phänomen der extremen Rechten in Italien beleuchtet.

Anschlag auf die Diskothek Liverpool 1984: Stadt München sucht Zeitzeugen

Über den Anschlag ist auch 40 Jahre danach nicht viel bekannt, weshalb die Stadt München respektive die Abteilung Public History im Kulturreferat nun um Unterstützung aus der Bevölkerung bittet. "Das Kulturreferat sucht weiterhin nach Zeitzeugen und Hinweisen. nach Spuren und Quellen zum 7. Januar 1984", sagt Referatsmitarbeiter Moritz Kienast im Gespräch mit der AZ: "Wir können ja nicht sozusagen als Ermittler aktiv werden und haben selbstverständlich auch Kontakt zu entfernten Verwandten von Corinna Tartarotti. Aber wir freuen uns, wenn sich Menschen bei uns melden, die sich an das Geschehen erinnern und ihre Erinnerung mit uns teilen wollen."

"Die Kanister explodierten, kurz darauf stand das Kellerlokal in Flammen"

Die neonazistische "Gruppe Ludwig" reklamierte die Tat damals mit einem in Pseudo-Runenschrift geschriebenen, mit Reichsadler und Hakenkreuz versehenen Schreiben für sich. "Am Abend des 7. Januar 1984 warfen Wolfgang Abel und Marco Furlan je einen Benzinkanister in den Eingangsbereich des Clubs Liverpool. Die Kanister explodierten, kurz darauf stand das Kellerlokal in Flammen", skizzieren Robert Andreasch und Lina Dahm auf "aida.de" die Ideologie der Täter, den rechten Terror und die Erinnerungspolitik in München.

Robert Andreasch: "Der Anschlag galt lange als ein Kriminalfall von vielen"

Die beiden engagieren sich im Verein "Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München". Andreasch tut sich mit dem Begriff "vergessen" im Zusammenhang mit dem Brandanschlag schwer. Schließlich sei das Geschehen bekannt gewesen, sagt er der AZ: "Die Tat und vor allem ihre Hintergründe sind aktiv verdrängt worden. Der Anschlag galt lange als ein Kriminalfall von vielen, weil der Verfassungsschutz den Anschlag über Jahrzehnte hinweg nicht der rechten Szene zuordnete."

Robert Andreasch: "Erinnern muss jeden Tag passieren"

Für Robert Andreasch ist das kein neues Phänomen. Auch das Oktoberfest-Attentat (26. September 1980) sei erst Jahrzehnte später offiziell als rechtsextremer Anschlag protokolliert worden, kritisiert er.

"Die Stadt muss sich mit den hinter dem Anschlag steckenden Ideen auseinandersetzen und der rechten Ideologie den Kampf ansagen", sagt Robert Andreasch vom Verein "Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München". (Archivbild)
"Die Stadt muss sich mit den hinter dem Anschlag steckenden Ideen auseinandersetzen und der rechten Ideologie den Kampf ansagen", sagt Robert Andreasch vom Verein "Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München". (Archivbild) © imago/Zuma Wire

Und ebenso das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum (22. Juli 2016), das ebenfalls erst drei Jahre danach als rechtsextremistische Tat definiert worden sei: "Von daher bin ich sehr gespannt, wie das Liverpool-Gedenken dann am 41. Jahrestag aussieht. Ob die Stadtgesellschaft sich dann tatsächlich weiter damit auseinandersetzt. Erinnern muss nämlich jeden Tag passieren. Erst recht in diesen Tagen, in den wir die neue Rechte erleben und sich die Ideologie der 'Gruppe Ludwig' ausdrücklich auch bei der AfD wiederfindet."

"Der Anschlag im Liverpool ist eigentlich eine ziemlich aktuelle Geschichte"

Zwischen 1977 und 1984 wurden der "Gruppe Ludwig" mindestens acht Morde in Norditalien zugeschrieben, dazu kamen zwei Anschläge mit insgesamt sieben Toten und Dutzenden Verletzten. Man müsse sich gezielt die Fragen stellen, warum es den Münchner Anschlag gegeben habe und ob die Gefahr noch existent sei, so Andreasch: "Der Anschlag im Liverpool ist eigentlich eine ziemlich aktuelle Geschichte."

Der Fachjournalist – er trägt eigentlich einen anderen Namen und wurde 2019 mit dem Publizistikpreis der Stadt München ausgezeichnet – spürte vor einigen Jahren zusammen mit Lina Dahm das Grab von Corinna Tartarotti auf und bewahrte es vor der Auflösung: "Unser Verein hat damals die Pflege für die nächsten 20 Jahre übernommen, das angeblich aufgelöst worden war. Als ich die ehemalige Grabstelle damals fotografieren wollte, stellte sich heraus, dass es das Grab sehr wohl noch gibt." 

"Investigative Theater" präsentiert Lesung "Moralkonstrukte und rechter Terror"

Mindestens so irritiert war Robert Andreasch, als er die Antwort auf die Frage nach den Ermittlungsakten zum Anschlag am denkwürdigen 7. Januar 1984 bekam: "Es hieß, die Akten seien nicht zu finden oder schlichtweg verlegt worden."

Anzeige für den Anbieter Instagram über den Consent-Anbieter verweigert

Wie Andreasch sieht auch Christiane Mudra eine wahnhaft christliche Sexualmoral in der Ideologie der "Gruppe Ludwig".  Die Autorin und Regisseurin geht diesem Phänomen am Samstag (19 Uhr) in der Lesung vom "investigative theater" auf den Grund. In der Pension am Hauptbahnhof in der Schillerstraße 18 lesen die Münchner Schauspieler Edith Konrath, Stefan Lehnen und Ivy Lißack unter dem Titel "Moralkonstrukte und rechter Terror".

Christiane Mudra: "Gedanken der Terroristen entstehen nicht im luftleeren Raum"

Die für ihre intensiven Recherchen zu aktuellen politischen Themen bekannte Theatermacherin Christiane Mudra war damals noch ein Kind, als in der Schillerstraße 11a die Brandsätze flogen. Sie wolle mit ihrem Beitrag keine Lücken füllen, betont die Münchnerin der AZ gegenüber.

"Diese Gedanken, die Terroristen damals wie heute antreiben, entstehen nicht im luftleeren Raum", warnt Christiane Mudra – Autorin, Regisseurin und Gründerin des Projekts "investigative theater".
"Diese Gedanken, die Terroristen damals wie heute antreiben, entstehen nicht im luftleeren Raum", warnt Christiane Mudra – Autorin, Regisseurin und Gründerin des Projekts "investigative theater". © Verena Kathrein

Sie nutzt die Lesung vielmehr als eine Art diskursiven Pool und setzt die Fragmente verschiedener Texte puzzle-artig zusammen: Ihr sei aufgefallen, dass viele Medien damals den Brandanschlag zunächst als Skandal im Rotlichtmilieu verorteten und dies in den ersten Tagen nach der Tat sehr stark in ihren Schlagzeilen so ausschlachteten.

Massimiliano Livi: "Das ist kein deutscher Fall, das ist ein italienischer Fall im Ausland"

"Meines Erachtens lässt sich da bis heute eine Kontinuität finden, indem man bei rechtsextremen Attentaten die Täter in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe sucht, wie das zum Beispiel auch beim NSU der Fall war", sagt Mudra: "Das wiederum zeigt dann, dass es auch eine Empfänglichkeit für bestimmte Überzeugungen in der Gesellschaft gibt, dass Rechtsterrorismus und seine Verdrängung nicht im luftleeren Raum entstehen."

Historiker: "Gruppe Ludwig" reiht sich in postfaschistische extrem rechte Ideologie Italiens ein

Dass sich viele Spuren in der Vergangenheit verloren haben, liegt nach Einschätzung von Historikern zum einen daran, dass München der einzige Tatort in Deutschland war, an dem die beiden jungen Männer – Jahrgang 1959 sowie 1960 – ihre brutalen Angriffe ausführten. "Das ist kein deutscher Fall, das ist ein italienischer Fall im Ausland", wird etwa Massimiliano Livi von der dpa zitiert. München als Tatort sei reiner Zufall gewesen, auch wenn einer der beiden Männer dort engste familiäre Bezüge hatte.  

Die "Gruppe Ludwig" reihe sich in vielen Aspekten nahtlos in die postfaschistische extrem rechte Ideologie Italiens ein, schreiben der Historiker Thomas Porena und seine Kollegin Eike Sanders in einem Aufsatz zum Thema. Diese sei von Elitarismus, faschistischem Untergangsmystizismus und einer sexualitätsfeindlichen Männerbundideologie geprägt gewesen.

Anschlag auf Münchner Diskothek Liverpool: Der Deutsche und der Italiener gestanden nie

Es handele sich um Botschaftstaten: "Es begann mit kleineren Anschlägen gegenüber Sinti, Obdachlosen, Sexarbeiterinnen, Schwulen und Drogenkonsumenten. Dann begannen sie, Symbole der 'gesellschaftlichen Dekadenz' anzugreifen", schildert Porena die Hintergründe.

Dazu gehörte demnach neben Morden an "gefallenen Priestern" auch das Münchner Liverpool, das zumindest in den Augen der Täter ein Sex-Club war. Obwohl der Sperrbezirk damals schon lange existierte. Gefasst wurde das Duo – gerade noch rechtzeitig – dann 1984, als es in einer vollen Disko in Norditalien erneut Benzin verschüttete. Der Deutsche und der Italiener gestanden nie, wurden aber in einem Indizienprozess für einen Großteil der ihnen zugeschriebenen Taten verurteilt.

Christiane Mudra über Antifeminismus als Bindeglied in der rechten Ideologie 

Das Duo entstammte der gehobenen Mittelschicht, "sie kamen aus sehr wohlhabenden Familien", erläutert Christiane Mudra der AZ. Sie zieht interessante Parallelen zu aktuellen Anschlägen und bringt die Taten mit den sogenannten Incels in Verbindung, die sich selbst als unfreiwillig im Zölibat Lebende bezeichnen und unter den Frauenhassern im Netz in den vergangenen Jahren nicht zuletzt durch Gewalttaten immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. 

Auch der Halle-Attentäter am 9. Oktober 2019 – die Tat war der Versuch eines Massenmordes an Juden an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag – sympathisierte mit der Gedankenwelt der Incels", sagt Christiane Mudra, die dabei erneut den Bogen spannt: "Der männliche Dominanzanspruch ist ein uralter, anschlussfähiger Aspekt reaktionärer Bewegungen, auf den die Incels ihre misogynen Bestrafungspraktiken gründen – hier zum Beispiel sehe ich Parallelen zur Gruppe Ludwig."

Gedenken an das Attentat am Sonntag, 7. Januar mit  Claudia Roth und Bürgermeister Dominik Krause (beide Grüne).
Gedenken an das Attentat am Sonntag, 7. Januar mit Claudia Roth und Bürgermeister Dominik Krause (beide Grüne). © Daniel von Loeper

Kranzniederlegung zum 40. Jahrestag des Attentats mit Bürgermeister Dominik Krause und Claudia Roth

Zu der Kranzniederlegung am Sonntag. dem 40. Jahrestag des Attentats, kamen auch Bürgermeister Dominik Krause und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Grüne). Krause sagte der AZ, das Attentat erinnere daran, "dass unsere Grundwerte jeden Tag aufs Neue erkämpft werden müssen".

Was die Stadt konkret für dieses Gedenken tun könne? Man hoffe, noch weitere Zeitzeugen zu finde, sagte Krause. "Die Beschäftigung mit dem Anschlag, den Strukturen und Mustern des Rechtsextremismus bleibt für uns als Stadt eine wichtige Aufgabe." Man wolle "vor Ort ein permanentes Gedenken ermöglichen" und sei dazu "im engen Austausch mit Künstlern und Angehörigen", sagte Krause.

Wandmalerei als permanentes Gedenken: Hauseigentümer spielt dann doch nicht mit

Die Stadt München wollte den Ereignissen vom 7. Januar 1984 an diesem 40. Jahrestag gebührend Rechnung tragen und hatte auch eine gute Idee: Der Siegerentwurf eines dafür ausgelobten Wettbewerbs sollte als Wandmalerei am Gebäude des ehemaligen Liverpool an das Attentat erinnern.

"Wir haben die Eigentümer, die Mieter, den Denkmalschutz frühzeitig in unsere Pläne mit eingebunden und waren da auf einem guten Weg", sagt Moritz Kienast vom Kulturreferat. Ende vergangenen Jahres habe sich der Eigentümer dann dagegen entschieden, das Haus permanent für die Wandmalerei zur Verfügung zu stellen: "Der öffentliche Raum ist dort sehr, sehr begrenzt, und das Haus ist nun einmal in Privatbesitz, da können wir als Stadt nicht machen, was wir wollen."

Nun wird der Künstler Tim Wolff am Montag (8. Januar) die unrealisierte Wandmalerei in einer Videoinstallation am Tatort aufgreifen. Bis auf Weiteres wird in der Schillerstraße 11a also nichts dauerhaft an den rechtsextremen Anschlag und seine Opfer erinnern. Moritz Kienast: "Wir sind bestrebt, das zu ändern und bleiben an dem Thema dran."


Alle Infos zu den mit Blick auf den 40. Jahrestags des Anschlags finden Sie übersichtlich zusammengefasst unter diesem Link.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.