"Er hatte zwei Seelen"
Karl Valentins Enkelin Anneliese Kühn erinnert sich an ihren lustigen, ängstlichen Opa
AZ: Ihr Großvater ist seit 60 Jahren tot.Wie wach ist Ihre Erinnerung an ihn?
ANNELIESE KÜHN: Ich war neun Jahre alt, als er gestorben ist. Aber ich kann mich gut an ihn erinnern. Wir haben zusammen gewohnt in Planegg. Ich habe immer seine Moritaten mit ihm gesungen – die musste ich auswendig können. Er hat dazu Zither, Akkordeon oder Klavier gespielt. Jeden Tag hat er mich zum Kindergarten gebracht und wieder abgeholt. Mein Großvater hat mich schon sehr geliebt. Karl Valentin hat so viele Menschen zum Lachen gebracht.
War er in der Familie auch ein Komiker?
Nein, da war er gar nicht komisch. Mein Großvater hatte schweres Asthma und war ein richtiger Hypochonder. Er ist immer wieder zum Arzt gegangen, auch zum Psychiater. Wenn er nur einen Schnupfen hatte, befürchtete er gleich, dass es eine Lungenentzündung ist.
Wie erklären Sie sich das?
Er war ein echter Zwilling: Er hatte zwei Seelen in seiner Brust. Sein Bühnentalent und sein Talent, den Leuten aufs Maul zu schauen auf der einen Seite. Und dann das Depressive, seine ständige Angst. Außerdem war es natürlich eine schlimme Zeit damals. Während des Kriegs hat er gar keine Vorführungen mehr gegeben. Er hat gesagt, das passt einfach nicht mehr.
Und nach 1945?
Nach dem Krieg wollte man ihn nicht mehr. Er hat sehr darunter gelitten, dass er nicht mehr so populär war. Dabei war München doch sein ein und alles – Planegg war schon fast Ausland für ihn! Berlin und Wien waren seine weitesten Reisen. Ansonsten wollte er nur dahin, wo die Straßenbahnen fahren. Er hatte Angst, mit dem Schiff reisen zu müssen. Und die Taxifahrer mussten immer ganz langsam fahren. Zugfahren mochte er auch nicht – es hätte ja ein Unfall passieren können.
Aber seine Ängste hinderten ihn nicht daran, vorwitzig aufzutreten. . .
Er hat zum Beispiel ein paar Mal den Hitler getroffen. Einmal sagte der Hitler zu ihm: „Herr Valentin, ich kann über ihre Stücke so sehr lachen!“ Aber mein Großvater hat geantwortet: „Sehen Sie Herr Hitler, aber ich über Ihre gar nicht.“ Trotzdem hat er in dieser Zeit nie Probleme bekommen. Es wundert mich, dass er so ungeschoren davon kam.
Wie war das Verhältnis zwischen ihren Großeltern?
Meine Großmutter nähte die Kostüme für meinen Großvater und saß nächtelang an seinem Bett, wenn er seine Asthmaanfälle hatte. Aber sie konnte seine kreative Seite nicht teilen. Sie war überhaupt nicht musikalisch. Immer wenn die Oma gesungen hat, hat mein Großvater angefangen zu heulen wie ein Hund. Meine Großmutter war natürlich furchtbar eifersüchtig: Da war diese andere Frau, Liesl Karlstadt. Ich glaube schon, dass die beiden eine Liebesbeziehung hatten. Aber mein Großvater hätte mit dieser Frau nicht leben können – und die andere hat er gebraucht. 1947 lag meine Großmutter mit Brustkrebs im Krankenhaus. Da hat er am Bett geweint und gesagt: „Wenn sie nur wieder heimkommen würde. Sie dürfte schimpfen, sie dürfte sogar singen!“
Erkennen Sie manchmal Charakterzüge Ihres Großvaters an sich wieder?
Man kommt mit der Zeit darauf, dass man nicht viel geerbt hat. Leider. Meine Mutter hatte noch etwas von seinem Talent. Aber ich selbst bin nur zum Hausgebrauch musikalisch. Trotzdem forsche ich schon manchmal, ob ich etwas von ihm habe. Wenn ich zum Beispiel ein beklemmendes Gefühl habe, ängstlich bin, dann denke ich schon manchmal an den Opa.
Gerade ist das Leben von Karl Valentin verfilmt worden. Gespannt auf das Ergebnis?
Ich schaue mir den Film auf jeden Fall an. Ob mein Großvater aber so glücklich damit gewesen wäre, weiß ich nicht. Denn es werden ja auch seine unguten Seiten gezeigt.
Denken Sie, dass in München genug für das Andenken Ihres Großvaters getan wird?
Nein, absolut nicht. Es gibt zum Beispiel eine wunderbare Ausstellung über ihn, die bereits in Düsseldorf und Frankfurt war und jetzt in Berlin im Gropius-Bau zu sehen ist. München hat sich da zuerst gar nicht darum bemüht. Jetzt kommt die Ausstellung im Oktober nach München. Auch das kleine Valentin-Theater am Wiener Platz hört im Mai wohl auf. Überhaupt gibt es kaum Aufführungen meines Großvaters in München. Er hat früher schon immer gesagt: „Die Lappländer, die Indianer und die Münchner – die kennen mich nicht, die mögen mich nicht.“ Julia Lenders
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