Elektromarkt-Kamikaze: "All you can schlepp"
150 Sekunden. So lange hat Sebastian in einem Elektromarkt Zeit, alle Produkte, die er tragen kann, zur Kasse zu bringen – ohne einen Cent zu zahlen. Am Ende landet er bei 28.946 Euro.
München - Sebastian hat sich vorbereitet, als müsste er einen Marathon laufen. Dabei geht es heute um 150 Sekunden, keine 42,195 Kilometer. Er lockert seine Muskeln, trippelt in seinen glänzenden Sportschuhen auf und ab.
Jedes Kind träumt davon, nachts in einem Spielzeugladen eingesperrt zu sein und sich alles nehmen zu dürfen, was es will. Saturn ist der Spielzeugladen für Männer. Computer, Fernseher, teure Technik. Sebastian hat keine Nacht, aber er hat 150 Sekunden. Und in denen darf er so viel nehmen, wie er tragen kann. „All you can schlepp“ hat Saturn seine Aktion genannt – weil in Kiel bald der 150. Markt eröffnet, lassen sie einen Teilnehmer 150 Sekunden lang wildern. Der Saturn am OEZ ist einstöckig, nicht zu groß, hier hat Sebastian eine echte Chance. Unter 40.000 Bewerbern hat er sich durchgesetzt.
„Ich habe eine Woche keinen Sport mehr gemacht, habe keine Treppe mehr genommen, nur den Aufzug, damit ich mich ja nicht verletze“, sagt der 27-Jährige. „Geschlafen habe ich auch nicht.“ Er ist nervös. Aber einfach loslaufen und sammeln ist jetzt natürlich nicht drin. So eine Marketingaktion will auch zelebriert werden, und deswegen muss Sebastian eine Show mit Zaubermoderator über sich ergehen lassen.
Der Zaubermoderator quietscht wie ein aufgedrehtes Gummibärchen, lässt Sebastian mit Bällen und Löffeln spielen und ihn Produktpreise raten. „Eine Prinzessin Lilifee-DVD?“ – „Völlig wertlos“, sagt Sebastian. „Och, die hat mir schon viele schöne Abende bereitet.“ – „Das glaub ich gern.“ Der Mann will loslegen.
Er hat einen Plan. Erst die Fernseher. Dann Apple-Produkte, dann Kameras. Er weiß, was er schaffen kann, in den 150 Sekunden. Die kleineren Produkte müssen in eine Kiste, die großen davor. Und Sebastian hat etwas sehr Großes entdeckt: „Der Kühlschrank da, der ist doch echt toll!“ Rot, retro. Sebastian zieht bald um.
Ein LED-Bildschirm, am Ende des Hauptgangs aufgehängt, zählt die Sekunden runter. Sebastian bringt sich in Stellung, es trötet, und... los! Sebastian ist schnell. Zwei hüfthohe Fernseher packt er als erstes, im Rennen noch einen Blue-Ray-Recorder aus dem Regal obendrauf, zur Abgabe vorgeschoben, wieder los. Ein Verkäufer zieht ein nichtsahnendes Rentnerpaar in einen sicheren Seitengang, den mit Druckerpapier.
Sebastian rennt, zu Apple. Zwei Macbook Pro, Laptops, vor, weiter. Zur Vitrine, Nikon, Sony, Kameras, Objektive. Vor, weiter, die Zeit rennt mit, 55 Sekunden, ein Laptop, Smartphones, iPhones, Galaxys obendrauf gestapelt, der Sprint zurück – und nein, die kleinen Smartphones, sie rutschen vom großen Karton, zwei, drei, vier platschen nacheinander auf den Teppich. Egal jetzt. Sebastian packt sich den roten Kühlschrank, zieht ihn mit ganzer Kraft vor seine Kiste – und aus.
Der 27-Jährige, ein feiner Schweißfilm auf dem Gesicht, lässt sich auf den Boden fallen, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Minutenlang liegt er da, Leute klatschen. „Alles okay, Sebastian?“, fragt der Moderator“. – „Ja.“ Mehr bekommt er nicht heraus. Die Anstrengung, die Aufregung. Er ist bleich im Gesicht.
Er bleibt liegen, als der Trupp seine Beute zur Kasse trägt. „Vielleicht reicht es, wenn wir vom Kühlschrank den Preis mitnehmen“, murmelt der Moderator. 28.946 Euro werden es. Der Gewinner rappelt sich langsam auf, blass. „Ein bisschen wäre noch drin gewesen“, murmelt er. Jetzt wurmen ihn die runtergefallenen Smartphones.
Aber er erholt sich. Den Kühlschrank will er selbst behalten, einen der Fernseher, den Recorder. 28.946 Euro. Langsam begreift er das. „Es ist, wie als würdest du angerufen, du hättest einen Fernseher gewonnen – wie toll ist das? Und was ist das im Vergleich mit dieser Aktion?“
Ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, steht im Gang, durch den Sebastian gerannt ist, und reckt seine kurzen Arme in die Höhe, um ein Kinderspiel auf einem Tablet zu spielen. Seit Sebastian gelaufen ist, steht er da, aber er ist so vertieft in die Welt auf dem Schirm, dass er den Rummel nicht mitbekommen hat. Vielleicht träumt er heute Nacht, in einem Spielzeugladen eingesperrt zu sein.