Einsam in die Ewigkeit

Nichts bleibt, nicht mal eine Erinnerung: Wenn es keine Angehörigen mehr gibt, die sich um die Beerdigung eines Toten kümmern, sorgt die Stadt für die letzte Ruhestätte. So wie im Fall von Hubert D. und Anna S.
von  Abendzeitung
Nur der Pfarrer steht am frisch ausgehobenen Grab am Ostfriedhof – ansonsten keine Menschen Seele: Die 82–jährigen Anna S. hat alleine gelebt, ist alleine gestorben und wird alleine zu Grabe getragen.
Nur der Pfarrer steht am frisch ausgehobenen Grab am Ostfriedhof – ansonsten keine Menschen Seele: Die 82–jährigen Anna S. hat alleine gelebt, ist alleine gestorben und wird alleine zu Grabe getragen. © Mike Schmalz

Nichts bleibt, nicht mal eine Erinnerung: Wenn es keine Angehörigen mehr gibt, die sich um die Beerdigung eines Toten kümmern, sorgt die Stadt für die letzte Ruhestätte. So wie im Fall von Hubert D. und Anna S.

Er lag ungefähr eine Woche in seiner Wohnung in Englschalking. Erst als der Verwesungsgeruch unerträglich wurde, verständigte eine Nachbarin den Hausmeister. Woran Heinrich Hubert D. im Alter von nur 58 Jahren starb, ist völlig unklar. Und es gibt auch niemanden, der danach fragt. Niemanden, der ihn beerdigen wollte. Nur die Nachbarin hat eine Grabkerze vor seine Wohnungstür gestellt. Sie ist ausgebrannt.

Bis Ende September wurden in München 315 „Bestattungen von Amtswegen“ durchgeführt. Wenn es keine Angehörigen gibt, die sich um die Beisetzung eines Toten kümmern, sorgt die Stadt für die letzte Ruhestätte.

Hubert D. hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen

Heinrich Hubert D. wurde verbrannt. Seine Urne steht jetzt in einer Gitternische am Ostfriedhof – neben vielen anderen. Er selbst nannte sich nur Hubert. In zahlreichen Internetforen, Blogs und sogar auf einer eigenen Homepage hat er von seiner Arbeit als freier Journalisten erzählt. Und von seiner Leidenschaft: seinen Reisen nach Indien. Doch seine Texte zeigen deutlich, wie sehr sich Hubert D. in eine eigene Welt zurückgezogen hatte. Sie sind teilweise nur schwer verständlich - bedeutungsschwer, voller Spiritualismus. „Alle Geschichten sind möglich! Erzählte und unerzählte“, schreibt er.

Hubert D.s eigene Geschichte zu erzählen, fällt schwer. Keine Familienangehörigen, keine Freunde können helfen, das Leben des Mannes zu rekonstruieren. Seit etwa eineinhalb Jahren habe er in dem Mietshaus in Englschalking gewohnt, erzählt sein Nachbar, der 47-jährige Arno Lang. „Ich habe ihn aber nur ein oder zwei Mal gesehen." Er sei ein sehr ruhiger Mensch gewesen. Dünn. Blass. Mehr wissen die anderen Mieter auch nicht zu berichten.

„Das Appartement war spärlich eingerichtet“, sagt der Nachlassverwalter, der in diesem Fall nicht viel zu verwalten hatte. Der Verstorbene war arm. Sein Besitz: ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Bett und ein Computer.

882000 Euro musste die Stadt im Jahr 2007 für „Bestattungen von Amtswegen“ ausgeben

Es ist die alltägliche Aufgabe von Sigrid Diether und ihrem kleinen Team, sich mit Geschichten wie der von Hubert D. zu befassen. Sie sind darum bemüht, doch noch jemanden zu finden, der die einsamen Toten beerdigt – und der für die Kosten aufkommt. 882000 Euro musste die Stadt alleine im Jahr 2007 für „Bestattungen von Amtswegen“ ausgeben. Etwa 3000 Euro kostet die Erdbestattung, die Einäscherung ist ein wenig günstiger. Allerdings wird eine Verbrennung nur angeordnet, wenn der Verstorbene das ausdrücklich wünschte – oder wenn es in dessen Familie üblich war. „Niemand, der alleine ist, muss Angst haben, dass er verscharrt wird“, verspricht Sigrid Diether. „Wir kümmern uns um eine einfache, ortsübliche und würdevolle Bestattung.“

Der helle Holzsarg ist schlicht. Die Halterungen für Totenkränze sind leer geblieben. Nur auf dem Sarg selbst liegt ein buntes Gesteck – ein letzter Gruß von der Sozialbetreuerin der Verstorbenen. Anna S. wird an einem grauen Herbstmorgen beigesetzt. Die Aussegnungshalle auf dem Ostfriedhof ist viel zu groß für die Trauerfeier. Eine Frau und zwei Nonnen aus dem Pflegeheim sind gekommen, in dem Anna S. in den letzten fünf Jahren lebte. Und ihre gesetzliche Betreuerin. Immerhin. Vielen anderen gibt gar niemand mehr das letzte Geleit.

Exakt acht Minuten dauert die kurze Trauerfeier in der Halle. Der Pfarrer leistet sich dabei einen kleinen Lapsus: „Tröste die trauernden Angehörigen“, liest er als Fürbitte vor. Doch genau die fehlen, Anna S. war ganz alleine. „Sie hatte nie Besuch“, berichtet der Heimleiter. Nur ihre Betreuerin, eine freundliche Frau mit dunklen Locken, sah regelmäßig nach dem Rechten. Sie beschreibt Anna S. als liebevollen Menschen. „Sie mochte Eis und Schokolade, die im Mund schmilzt.“

Die Lebensgeschichte liegt im Dunkeln

Die Lebensgeschichte der Verstorbenen liegt absolut im Dunkeln. Anna S. stammte aus dem heutigen Polen. Sie konnte nicht sprechen, gab nur Laute von sich. Ob sie von Geburt an behindert war, oder ob sie in Folge eines traumatischen Kriegserlebnisses ihre Sprache verlor, ist unklar.

Bevor sie ins Heim kam, in dem sie zuletzt lebte, war sie schon in einer anderen Pflegeeinrichtung untergebracht. „Sie muss ein schweres Leben gehabt haben“, mutmaßt eine Pflegerin. „Als sie zu uns kam, war sie total verängstigt.“ Ein schlichtes Holzkreuz wird künftig ihr Grab schmücken. Anna S. wurde 82 Jahre alt.

Sigrid Diether von der Friedhofsverwaltung ist noch nie auf einem der zahlreichen Begräbnisse gewesen, die sie „von Amtswegen“ anordnet. „Ich muss irgendwie Distanz zu meiner Arbeit halten.“ Schwer genug. Denn immer wieder gibt es Fälle, die einen rein professionellen Blick fast unmöglich machen.

„Wenn uns ein Fall besonders berührt, dann reden wir viel darüber"

Wie der aus dem vergangenen Jahr, als ein alter Mann starb, der sich bis zuletzt um seine demenzkranke Frau gekümmert hatte. Irgendwann quoll der Briefkasten im Flur des Mietshauses über. Als die Polizei die Tür aufbrach, fand sie zuerst den Mann. Tot. Und dann die Frau: völlig verwahrlost und geschwächt. „Wenn uns ein Fall besonders berührt, dann reden wir viel darüber“, erzählt Sigrid Diether.

An der Haustür von Heinrich Hubert D. kleben immer noch die Reste der Polizei-Versiegelung. Die Blumen auf seinem Balkon sind mittlerweile vertrocknet. Demnächst wird die Friedhofsverwaltung den Fall zu den Akten legen. Dabei sind so viele Fragen offen geblieben. Wer war er? Wie war er? Einen Menschen konnte die AZ auftreiben, der ein wenig von Heinrich Hubert D. erzählte – einen ehemaligen Arbeitskollegen.

Die beiden hatten Anfang der 90er gemeinsam für das Magazin „Geldinstitute“ geschrieben. „Er hat die Dinge immer anders hinterfragt, als man es sonst gemacht hat“, erinnert sich der Journalisten an Hubert D. „Er war nicht stromlinienförmig.“ Eher ein Sonderling sei er gewesen – im Positiven wie im Negativen. Oft genug habe er sich abgekapselt. Habe Schwierigkeiten gehabt, auf Menschen zuzugehen. Irgendwann verlief der Kontakt zwischen ihnen im Sand. So wie all die anderen, die Hubert D. jemals gehabt hatte.

Julia Lenders

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