Eine Münchnerin berichtet aus Flüchtlingslagern

Clara Richter ist als freiwillige Helferin des Vereins "Heimatstern" in Camps in Griechenland unterwegs.
Anja Perkuhn |
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Clara Richter berichtet von schrecklichen Zuständen in den griechischen Flüchtlingslagern.
privat Clara Richter berichtet von schrecklichen Zuständen in den griechischen Flüchtlingslagern.

Das Grauen und die Trauer müssen irgendwo hin, auf irgendeine Weise raus, weil sie in den Menschen brodeln und rumoren und sie zu zerreißen drohen. Dafür ist Clara Richter da, in Griechenland. Sie hört vor allem zu – den Jugendlichen, die sich in den Nachfolge-Camps von Idomeni den ganzen Tag langweilen, weil es dort nichts zu tun gibt, als ihrem Schicksal zu harren. Den Frauen, die auf ihren Handys Bilder zeigen von verstorbenen Familienangehörigen. Oder denen, die Angst haben, nachts allein durchs dunkle Lager zur Toilette zu gehen, überhaupt als Frau allein unterwegs zu sein. Da übernachtet Richter auch schon mal mit im Zelt. Zur Unterstützung.

"Der wichtigste Dienst, den ich tue, ist, sie wahrzunehmen", sagt sie. "Weil sie sich dann als Mensch fühlen und nicht nur als ein Viech, das in einem Zelt weggesperrt ist, sagen sie."

"Ich höre zu. Aber ich bin keine Therapeutin"

Fünf Wochen ist Clara Richter (22) gerade wieder in Griechenland gewesen und hat in sechs Camps besondere Einblicke bekommen: Die Sozialpädagogin spricht Arabisch, mit den Meisten dort kann sie sich direkt unterhalten. "Ich würde nie nachfragen, wenn mir jemand etwas erzählt, außer, ich habe etwas akustisch nicht verstanden", sagt sie. "Ich höre zu. Aber ich bin keine Therapeutin. Ich könnte da Wunden aufreißen, die ich mit meiner Profession nie wieder schließen könnte."

Seit Februar arbeitet die junge Frau nur noch für den Münchner Hilfsverein "Heimatstern", ihren bisherigen Job hat sie gekündigt. "Heimatstern" ist seit etwa einem Jahr für die Flüchtlinge in Griechenland aktiv, schickt immer wieder Laster voller Kleidung, Hygieneartikel oder Lebensmittel in das Land, aber auch Feldbetten, Feuerlöscher, Mülleimer – zuletzt auch eine kleine Schule.

Wer über zwölf Jahre alt ist, hat den ganzen Tag nichts zu tun

Der fünfte Transport ist das gewesen: Baumaterial für ein Gebäude, in dem Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren unterkommen. 190 Kinder sind jetzt dort eingeschrieben, erzählt Richter, zwölf Lehrer fanden sich unter den etwa 1500 Flüchtlingen im Camp Softex in der der Hafenstadt Thessaloniki. Es gibt Englischunterricht, Arabisch, Mathe, Naturwissenschaften, Musik, Kunst und Sport – und pro Klasse einen sogenannten attitude teacher – einen Verhaltens-Lehrer. "Die meisten Kinder sind in Ausnahmesituationen aufgewachsen, wissen nicht, wie das geht – miteinander umgehen, kommunizieren", erzählt Richter. "Der Großteil ist noch nie zur Schule gegangen."

Das hilft den Kleinen und den Lehrern – wer über zwölf Jahre alt ist und kein Pädagoge, hat aber nichts zu tun in den Camps. "Als wir den Kindergarten gebaut haben, halfen mir zwei Jungs und ein Mädchen", erzählt Richter. "Sie haben die Hütte mit mir lackiert, waren unendlich dankbar, dass sie eine Aufgabe hatten – und traurig, als wir fertig waren."

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Obst oder Babymilch gibt es nicht

Im Lager in Idomeni an der mazedonischen Grenze konnten die Bewohner wenigstens selbst kochen, sich so beschäftigen und um sich selbst kümmern. In den neuen, staatlichen Camps ist das fast unmöglich. Das ausgegebene Essen ist für alle das gleiche, kritisiert "Heimatstern"-Gründer Tilman Haerdle. "Obst, überhaupt Vitamine, oder Babymilch gibt es gar nicht." Und die Infrastruktur um die Camps herum ist für eine Selbstversorgung auch nur bedingt geeignet: Sie liegen in ehemaligen Industriegebieten. Der nächste Supermarkt ist mit dem Auto schon mal 15 Minuten entfernt – falls es eins gibt. Und wenn überhaupt Geld zum Einkaufen da ist.

Die Flüchtlinge versuchen, sich selbst zu behelfen. Die Freiwilligen versuchen, den Flüchtlingen zu helfen. Beides ist selten leicht und nicht immer möglich (siehe Protokoll-Kästen). "Aber das Wichtigste ist", sagt Clara Richter, "dass wir die Menschen in den Camps in Serbien und Griechenland nicht vergessen."

Vater in Deutschland, Mutter und Kinder im Camp

Die Zwillinge Mousa und Mahmoud haben ihren Vater noch nie gesehen. "Er ist in Deutschland, während ein Teil der Familie noch in Griechenland ist, so wie das bei vielen der Flüchtlinge der Fall ist. Mousa und Mahmoud leben mit ihrer Mama und fünf Geschwistern in einem der vom Militär verantworteten Camps", erzählt Clara Richter. "Die Mutter ist, wie man sich denken kann, sehr angespannt. Die alleinige Verantwortung und die ewige Sorge um das Wohl ihrer Kinder zermürben sie."

"Bring meinem Sohn einen Kuss von mir"

Die zwei Jungs sind Ahmed – mit Brille – und Hamoudi. "Sie leben mit ihrer Mama in einem der Camps", sagt Richter. "Der Vater und der ältere Bruder sind schon in Bayern, in der Nähe von Schweinfurt. Die Familie ist seit einem Jahr getrennt, ich fungiere da ein bisschen als Botschafterin. Wenn ich im Camp bin, sagt die Mama: 'Bring meinem Sohn einen Kuss von mir.' Wenn ich ihn sehe, bekommt er ihn – und schickt ihr einen zurück. Ahmed zieht mit einem alten Fahrrad jeden Tag los und pflückt Obst von den Bäumen in der Gegend, damit seine Familie mehr Vitamine bekommt."

"Ihn haben wir bei Taschenlampen-Licht im Dreck behandelt"

"Dieser Bub hatte eine offene Wunde am Kopf. Seine Eltern posteten das auf Facebook", erzählt die Helferin. "Da waren ich und unser 'Heimatstern'-Arzt Robi zum Glück gerade in Griechenland unterwegs. Wir fuhren zum Camp, die Militärs ließen uns aber nicht rein. Wir behandelten den Buben also bei Taschenlampen-Licht vor dem Camp.

Ob die Militärs einen Helfer reinlassen, ist tagesabhängig und abhängig von den einzelnen Soldaten. Wir mussten öfter Patienten rausbeordern. So auch eine Kurdin aus Kobane, die zwei Wochen vorher ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte. Die Wunde war massiv infiziert, sie konnte sie im Camp natürlich nicht richtig sauberhalten. Ich kam am nächsten Tag mit einer spanischen Ärztin zurück, wir kamen aber nicht durch. Wir mussten Kindern, die vor dem Camp spielten, ein Foto der Frau zeigen, damit sie sie zu uns rausbringen. Dann haben wir sie auf dem Parkplatz auf einer Isomatte versorgt."

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