Eine Großfamilie in München

Vom Großwaschtag mit zehn Maschinen bis zum Ausflug an den Flaucher: Normale Tätigkeiten werden zur Herausforderung. Die AZ hat die Münchner Familie begleitet
Amina Linke |
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Sei vorsichtig, Kind! Elena turnt auf einem Ast am Flaucher herum.
Sigi Müller 3 Sei vorsichtig, Kind! Elena turnt auf einem Ast am Flaucher herum.
Ein kleiner Fuhrpark: So sieht es aus, wenn die Cadeggianinis eine Radltour machen.
Sigi Müller 3 Ein kleiner Fuhrpark: So sieht es aus, wenn die Cadeggianinis eine Radltour machen.
Nass: Gut, wenn man eine Ersatzhose dabei hat. Oder gleich sieben.
Sigi Müller 3 Nass: Gut, wenn man eine Ersatzhose dabei hat. Oder gleich sieben.

Vom Großwaschtag mit zehn Maschinen bis zum Ausflug an den Flaucher: Normale Tätigkeiten werden zur Herausforderung. Die AZ hat die Münchner Familie begleitet.

München - Ein Paar Socken, eine Jeans und eine Strumpfhose hängen über Äste verteilt kreuz und quer im Gebüsch am Isarufer. „Alles meins“, sagt Jim strahlend, der mit nackten Beinchen auf der Picknickdecke umherstackst und stolz auf seine Sachen zeigt. Und alles naß, brummt sein Vater und zwinkert seinem Jüngsten zu: „Erst Lori, jetzt auch noch Du, wer stolpert als nächstes ins Wasser?“ – „Ich!“, sagt Camilla lachend. Oder war's Elena? „Socken, ich brauche Socken – jetzt!“, krakeelt Jim dazwischen.

Fuchtelnde Arme, springende Kinderbeine – von irgendwo her wird ein trockenes Paar Socken gereicht. „Das sind ja meine“, empört sich das Familienoberhaupt. Zu spät, flugs grabscht eine kleine Hand nach dem Knäuel, entwurschtelt es, zieht die Strümpfe bis zu den Oberschenkeln hoch – der Hosenersatz ist abgesegnet! Der Familienausflug am Flaucher kann weiter gehen – Wasser marsch.


 

„Aus Liebe zum Wahnsinn“, so heißt Georg Cadeggianinis Buch, in dem er über das alltägliche Chaos seiner achtköpfigen Familie schreibt. Zwei Erwachsene, sechs Kinder – das bedeutet Fingernägel schneiden im Akkord, Großwaschtage mit zehn Maschinen und Dauerbeschallung. „Langweilig wird’s da nie“, sagt Georg. Aber Langeweile fände der 34-Jährige auch gar nicht so schlimm. „Denn meist vergehen doch keine zehn ruhigen Minuten und sie tollen wieder herum.“ Hört sich einfach an. „Naja“, lenkt Georg ein. „Wenn's mal schlecht läuft, dann läuft's auch richtig schlecht. Dann arbeiten 60 Finger gegen Dich!“

Auf die Rückspultaste drücken möchte er dennoch nicht. Warum auch? Fluchtfantasien habe schließlich jeder mal – fehlten sie, wäre das eher ein Zeichen für Depression. Die Pausetaste drücken er und seine Frau Viola (35) dann aber doch schon mal, gehen zusammen ins Kino oder essen. Ihr Telefon funktioniert wie ein Babyphon und ruft die Eltern auf dem Handy an, wenn es daheim zu laut werden sollte. „Dann hören wir kurz rein, was in der Wohnung passiert. Hustet da nur einer oder weint der, dass wir umkehren müssen.“


 

Weite Wege haben sie ohnehin nicht, sie wohnen mitten in München. Natürlich müsse man da Kompromisse machen, räumt Georg ein. „Wir leben auf 93 Quadratmetern mit acht Personen – da bleibt für uns Eltern nur die Küche als Schlafzimmer.“ Das macht dem Autor und der studierten Italianistin aber nichts aus. Schließlich kennen sie noch ganz andere Wohnumstände, zwischen Umzugskartons, im Ausland. Plötzlich zerreißt Gekreische die Isar-Idylle. „Papa, das Auto ist auf Grund“, gellt der siebenjährige Lorenzo. Georg seufzt, „so ein Kasper“, krempelt die Ärmel hoch, hievt sich auf und schreitet zur Spielzeugauto-Rettung. Zwischen einer Ansammlung von Gesteinsbrocken soll sich der gute Ferrari verklemmt haben – unter Wasser natürlich. Da hilft alles nichts, das Spielzeug muss gefunden werden. „Es ist da irgendwo, das weiß ich ganz genau“, spornt Lorenzo seinen Vater an.

„Man muss auch mal Verluste ertragen“, beschwichtigt Georg. Minuten vergehen: Nichts. Die Situation spitzt sich zu, das Auto bleibt verschwunden, gleich könnte die Stimmung kippen. „Wir haben noch andere Ferraris, Donnerwetter“, kommentiert der dreijährige Jim wild gestikulierend das Geschehen. Camilla kommt angerannt, stapft planschend durchs Wasser zu der kleinen Felsformation. Georg: „Camilla, wir haben dochWasserverbot ausgeprochen!“ – „Sagt wer?“ Dann Erleichterung, Lorenzo fischt etwas Rotes aus den Stromschnellen. Die Augen strahlen, das PS starke Italo-Prachtstück inMiniformat ist wieder aufgetaucht.


 

In Italien, Schottland und Israel haben die Cadeggianinis schon gelebt – mit Kindern. Wann ins Ausland, wenn nicht jetzt, dachten sich Georg und Viola, als die ersten beiden Kinder da waren und sind zum Studieren nach Florenz gezogen. Der Wahn begann zum Sinn zu werden, trotzWohnungsüberflutungen und den Eigenarten der italienischen Verwandtschaft. „Das war unser Sprungbrett ins Leben. Mit ganz neuen Impulsen. Ohne die Kinder hätten wir wahrscheinlich so weitergemacht wie bisher“, sagt Georg.

Ein Jahr später brachen die Cadeggianinis dann Richtung Schottland auf. Dort, in Edinburgh, kam Kind Nummer drei: Camilla. „Man ringt bei jeder Geburt um Atem, auch als Vater“, sagt Georg heute schmunzelnd. „Aber die Edinburgh- Geburt war schon etwas Besonderes.“ Denn: Nicht nur dass im Kreißsaal direkt neben dem Sauerstoff-Hahn ein weiterer für Lachgas installiert war, gegen die Wehenschmerzen bot die Ärztin auch Heroin an – scheinbar ein gängiges Opiat in Großbritannien. Es ging auch ohne und nachdem die Hebamme genug Entzückungsschreie ausgestoßen hatte, stellte sie resigniert fest: „Naja, im Grunde sehen sie doch alle aus wie Winston Churchhill in seinen letzten Tagen.“

Nach einem kurzen Aufenthalt in München – Georg absolvierte die Journalistenschule, Viola bekam das vierte Kind, Lorenzo – hieß die nächste Station: Israel. Mit einem Stipendium ging es nach Tel Aviv. Georg arbeitete auch imGaza- Streifen, berichtete für deutsche Magazine über den Israel- Palästina-Konflikt. „Ich hatte ja keine Ahnung, was uns da erwartete“, gibt er im Rückblick zu. Zwei Selbstmordanschläge bekamen sie mit, beim Libanon-Krieg ging eine Katjuscha-Rakete der Hisbollah 50 Meter neben Georg runter – das Gefühl in der Magengegend ist ihm noch heute in lebhafter Erinnerung. Trotzdem sei es eine unvergessliche, eine schöne Zeit gewesen, sagt der sechsfache Vater. „Mit einem positiv gedrehten Defätismus geht alles, besonders in einer Großfamilie – und die wurde in Israel gut aufgenommen, als vollkommen normal angesehen.“


 

Anders in München. Sechs Kinder sind hier eine Seltenheit. In einer Stadt, die zu den teuersten in Deutschland gehöre, werde sich ebenmehr um überhöhte Mietpreise, fehlende Kita- Plätze und Schwierigkeiten beim Job-Wiedereinstieg den Kopf zerbrochen – noch bevor das erste Kind überhaupt in Planung sei. Georg weiß um das Aufsehen, dass seine Rasselbande auf der Straße, auf dem Spielplatz oder beim Einkaufen erregt. Erstaunlich seien nur die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen. „Bin ich mit den Kindern unterwegs, heißt es: endlich mal ein Mann, der sich kümmert“, sagt Georg. Viola erlebe andere Reaktionen, misstrauische Blicke und abschätzige Kommentare seien da leider keine Ausnahme.


 

Ruhe ist eingekehrt an der Isar. Die Sonne verschwindet langsam hinter Wolken, Wind zieht auf. Konzentriert schmeißen die sechs Cadeggianini- Kinder Steine ins Wasser – wer amweitesten kommt, hat gewonnen. Georg und Viola stehen daneben, lächeln sich an. Ob wohl noch ein siebtes Kind geplant ist? Dann würde schließlich der Bundespräsident die Patenschaft übernehmen. Man wisse nie, sagt Georg grinsend. „Aber sechs, das passt scho'.“

 

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