"Eine Frechheit": Was Türken in München von der Staatsbürgerschafts-Reform halten

Vor allem Senioren der "Gastarbeiter"- Generation sollen es künftig leichter haben, Deutscher zu werden. Ein Rückblick und ein Streifzug im Bahnhofsviertel in München.
von  Hüseyin Ince
Landwehrstraße: Die überzeugte Radlerin Gülbahar Demir hat bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie begrüßt die anstehende Reform. Dass es seit 1999 für die türkische Minderheit verboten war, zwei Staatsangehörigkeiten zu haben, hält sie für eine Unverschämtheit.
Landwehrstraße: Die überzeugte Radlerin Gülbahar Demir hat bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie begrüßt die anstehende Reform. Dass es seit 1999 für die türkische Minderheit verboten war, zwei Staatsangehörigkeiten zu haben, hält sie für eine Unverschämtheit. © Hüseyin Ince

München - Es ist 2002. Klinikum Großhadern in der Wartezone. Eine Ärztin ruft in die Menge: "Kann hier jemand Türkisch?" Ich melde mich und gehe mit in ein Behandlungszimmer. Dort sitzt der Münchner Nuri, ein Mann wie ein Berg, leicht ergraut, Ende 50, Hände auf den Knien. Ein türkischer Einwanderer der späten ersten Generation. Frührentner, nachdem er 30 Jahre auf dem Bau gebuckelt hat.

Er spricht Deutsch, aber nicht so gut, dass er die Ärztin versteht. Die Ärztin zeigt mir Nuris Wirbelsäulenaufnahmen. "Das sind die Bandscheiben. Sie müssten ein bis zwei Zentimeter dick sein", sagt sie. Bei Nuri waren die allermeisten nur noch wenige Millimeter hoch. "Es drohen irreparable Schäden bis zu Lähmungen", sagt die Ärztin. "Kann man nicht operieren?", fragt Nuri. "Ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll", sagt die Ärztin.

Innenministerin Faeser: Türkische Einwanderer sollen leichter den deutschen Pass bekommen

Als die deutsche Innenministerin Nancy Faeser vor einigen Monaten davon sprach, dass sie mit einer Reform der Deutschen Staatsbürgerschaft insbesondere Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl geben wolle, die ab den 60ern durch harte Arbeit zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands beigetragen haben, muss sie Männer und Frauen wie Nuri gemeint haben.

Ihnen soll es in Kürze ab 67 Jahren möglich sein, ohne große Hürden Deutscher zu werden – und sie sollen ihre türkische Staatsbürgerschaft behalten dürfen. Das ist Einwanderern und deren Kindern aus der Türkei sehr wichtig, weil sie bis heute Freunde, Verwandte oder auch Eigentum dort haben. Doch was wäre, wenn jetzt die Reform tatsächlich käme? Gäbe es einen Boom, einen Run auf die deutsche Staatsbürgerschaft? Fragt man im Bahnhofsviertel Männer wie Mahir Yilmaz, wirkt das eher nicht so.

Mahir Yilmaz im Innenhof des Supermarktes Verdi, den er Anfang der 90er eröffnet hat. "Wozu mit 85 noch den deutschen Pass?", sagt er.
Mahir Yilmaz im Innenhof des Supermarktes Verdi, den er Anfang der 90er eröffnet hat. "Wozu mit 85 noch den deutschen Pass?", sagt er. © Hüseyin Ince

Nicht alle Türken wollen die deutsche Staatsbürgerschaft: "Jetzt noch, in meinem Alter?"

Yilmaz, Jahrgang 1938, ist der Gründer des legendären, weit über die Stadtgrenzen bekannten Supermarktes "Verdi" in der Landwehrstraße. Sein Enkel führt die Geschäfte. "In Deutschland herrscht Ordnung, Sicherheit. Ich bin dankbar. Du kannst dir ein gutes Leben aufbauen. Ich habe es zu Wohlstand gebracht. Das wäre mir in der Türkei, wo wir mit meiner Familie Felder beackert haben, so nicht möglich gewesen", sagt er, "aber jetzt noch Deutscher werden? In meinem Alter?"

Yilmaz kam 1970 nach Mainz, fing als Bauarbeiter an. Dann ging er in die Nachtschicht bei BMW in München. Maschinen säubern. Ab 1986 war er bei der Bundesbahn, bevor er Anfang der 1990er die Idee hatte, mit seinen drei Kindern den Supermarkt zu eröffnen. "Ich wollte mein eigener Chef sein", sagt er.

"Die bürokratischen Hindernisse in der Türkei sind ohne türkischen Pass viel größer"

Nebenan in der Goethestraße. Einen Aufstieg vom Tellerwäscher zum Juwelier hat Enver Sen (67) in München erlebt. Er kam 1980 nach Deutschland, fing als Spüler, Kellner, Koch, und LKW-Fahrer an. Seit 1997 hat er sein Juweliergeschäft. Bis heute ist er nur türkischer Staatsbürger. Über die Einbürgerung macht er sich schon seine Gedanken.

Juwelier Enver Sen. Er ist die seltsamen Fragen der Grenzpolizei leid und würde schon deshalb den deutschen Pass beantragen.
Juwelier Enver Sen. Er ist die seltsamen Fragen der Grenzpolizei leid und würde schon deshalb den deutschen Pass beantragen. © Hüseyin Ince

"Natürlich könnte ich Deutscher werden", sagt er, " bisher sah ich es nicht ein, dass ich meinen türkischen Pass dafür aufgeben müsste." Der Bezug in das Land, aus dem er einst einwanderte, sei einfach viel zu groß. "Die bürokratischen Hindernisse in der Türkei sind ohne türkischen Pass viel größer", sagt Sen.

Juwelier Enver Sen: "Würde an meinem Leben nichts ändern, wenn ich Deutscher werden würde"

Und der deutsche Ausweis? "Der würde mein Leben vereinfachen. Klar würde ich den deutschen Pass beantragen, wenn die neue Regelung kommt", sagt Sen. Allein am Flughafen müsste man sich nicht so viele seltsame Fragen von der Grenzpolizei gefallen lassen, erzählt er. Der Münchner Alltag? "Das würde an meinem Leben hier nichts ändern, wenn ich Deutscher werden würde", sagt Sen.

Bei seinen Kindern ist die Lage andersherum. Sie haben nur die deutsche Staatsangehörigkeit. Wenn die Reform kommt, "möchten mein Sohn und meine Tochter gerne die türkische Staatsbürgerschaft beantragen. Auch sie sind oft in der Türkei, haben Bezug zu Land und Leuten", sagt er. Zweistaatlichkeit sei ihre Identität.

Der Anwalt Temel Nal sorgt sich: "Wir leben in Zeiten von politischem Rechtsruck"

30 Minuten bei Anwalt Temel Nal. Staatsbürgerschafts-Experte. Nal ist noch skeptisch, ob das Gesetz kommt, wie es Faeser plant. Seine Empfehlung: "Wenn, dann sollte jeder, der hier lebt und die deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht hat, sie beantragen." Es passiere nämlich auch viel Unfug bei den Behörden und an der Grenze. Er habe schon oft erlebt, dass türkischen Staatsbürgern zu Unrecht der Aufenthaltstitel in Deutschland aberkannt wurde, weil sie zwischendurch eine Zeit lang in der Türkei lebten.

Staatsbürgerschaftsexperte Temel Nal in seinem Anwaltsbüro. Er empfiehlt jedem, der in Deutschland lebt, möglichst auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.
Staatsbürgerschaftsexperte Temel Nal in seinem Anwaltsbüro. Er empfiehlt jedem, der in Deutschland lebt, möglichst auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. © Hüseyin Ince

Außerdem: Wer wisse schon, was künftige Regierungen machen, sagt Nal. "Wir leben in Zeiten von politischem Rechtsruck." Vielleicht werde das Gesetz irgendwann einkassiert. Seit Bekanntwerden der Reformpläne wettern CDU und CSU, man würde den deutschen Pass "verramschen". Unsinn, sagt Nal. "Einwanderer trugen massiv zum Wirtschafts-Boom Deutschlands bei. Sie haben sich das verdient!"

Deutsch-Türkin Gülbahar Demir klagt: "Frechheit, dass die doppelte Staatsbürgerschaft verboten wurde"

Zurück im Verdi-Markt an der Landwehrstraße. Dort kauft gerade Gülbahar Demir ein. Jahrgang 1960. Eine überzeugte, tägliche Radlerin. "Das mache ich in der Türkei auch und die Leute denken, ich sei verrückt", so ungewöhnlich sei dort das Radeln unter Erwachsenen – und sehr deutsch. Demir, eine ehemalige Bundeswehr-Verwaltungsangestellte, lebt seit 1976 in Deutschland. Sie ist bereits doppelte Staatsbürgerin. Demir wurde vor 1999 zusätzlich Deutsche, völlig legal. Und das soll unbedingt so bleiben.

Zur Regelung seit 1999 sagt sie: "Das war bisher schon eine Frechheit, dass die doppelte Staatsbürgerschaft verboten wurde." Den deutschen und türkischen Pass zu haben, spiegele zu hundert Prozent die Identität ihrer Generation. Mit einer Portion Ironie sagt sie: "Hier sind wir Fremde. Und in der Türkei auch."

Seit der "lex turca" ist die doppelte Staatsbürgerschaft für türkische Einwanderer verboten

Die bisherige Regelung hat eine lange Vorgeschichte und bekam sogar mal den Beinamen "lex turca", das türkische Gesetz, weil es hauptsächlich die türkische Minderheit betraf. Seit 1999 ist die doppelte Staatsbürgerschaft für sie verboten. Der ehemalige hessische CDU-Politiker Roland Koch verhinderte damals, was Bundesinnenministerin Faeser nun im Bundestag beschließen lassen möchte. Koch startete gegen ein rot-grünes Gesetz, das so ähnlich formuliert war wie jetzt, eine bundesweite Unterschriftenkampagne im hessischen Wahlkampf. Manche fragten, wo sie denn bitte "gegen die Türken unterschreiben" könnten. Andere argumentierten, falls das Gesetz käme "haben die zwei und wir nur eine."

Rot-Grün brachte das Gesetz in der Stimmungslage Ende der 90er nicht durch, es wurde "verdünnt" beschlossen. Dabei ist die Doppelstaatlichkeit Alltag. Schweizer oder Iraner mussten ihre Herkunfts-Staatsbürgerschaft nie abgeben, um die deutsche zu beantragen. Auch Deutsch-Amerikaner standen nie in der Kritik. Jeder, der in den USA geboren wird, bekommt automatisch den US-Ausweis – "Erd-Recht", nennt sich das. In Deutschland hingegen dominiert eher das "Blutsrecht": Jeder mit deutschen Urgroßeltern hat Anrecht auf den deutschen Ausweis, egal wo er oder sie lebt, jemals in Deutschland gewesen ist oder Deutsch spricht.

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