Einblicke in die jüdischen Gemeinde Beth Shalom: "Es können sogar Frauen Rabbinerin werden"

Die Liberale jüdische Gemeinde setzt im Gegensatz zur orthodoxen auf Gleichberechtigung. Hier können sogar Frauen Rabbinerinnen werden und gleichgeschlechtliche Paare heiraten. In der AZ spricht die Vorsitzende Eva Ehrlich auch über den geplanten Neubau eines amerikanischen Stararchitekten.
von  Anne Wildermann
Seit 2007 ist Tom Kucera Rabbiner der Liberalen Gemeinde Beth Shalom in München. Bevor er seine geistliche Ausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam absolvierte, studierte er Bio-Chemie, promovierte auch darin.
Seit 2007 ist Tom Kucera Rabbiner der Liberalen Gemeinde Beth Shalom in München. Bevor er seine geistliche Ausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam absolvierte, studierte er Bio-Chemie, promovierte auch darin. © Sven Hoppe/dpa

München – Nicht in der Öffentlichkeit auffallen, bloß keine Angriffsfläche bieten. Religiöse Symbole wie eine Halskette mit Davidstern-Anhänger lieber verbergen oder die Kippa nicht außerhalb der Synagoge tragen. Dies rät Eva Ehrlich (76), Vorsitzende der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom im Süden Münchens, den Gemeindemitgliedern seit dem 7. Oktober 2023, als die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen hat. Denn: Zu groß ist die Angst, antisemitisch angefeindet zu werden.

"Früher trug ich eine solche Kette – auch auf der Arbeit. Ohne sie verbergen zu müssen, weshalb sie auch einer damaligen Arbeitskollegin aufgefallen ist. Daraufhin kreiste sie einige Tage um mich herum und fragte schließlich: ,In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Stern?' Meine Antwort: ,Oh, in einem sehr guten!' Sie hat mich nie wieder darauf angesprochen." Zu diesem etwas skurrilen Dialog kam es, als Ehrlich bis zum Renteneintritt als Team-Assistentin in einem Industrieunternehmen in München gearbeitet hat.

Die Vorsitzende steht in schwarzer Hose und mint-grünem Pullover hinter dem Vorlesepult (Bima) in der Synagoge und will an diesem Donnerstagabend einer Besuchergruppe, nicht nur von ihrem Leben erzählen, sondern auch die Besonderheiten des liberalen Judentums näherbringen.

"Es können sogar Frauen Rabbinerin werden"

Der gravierendste Unterschied zu orthodoxen Gemeinden wie der am Sankt-Jakobsplatz in München ist, dass Männer und Frauen bei den Liberalen gleichberechtigt sind. "Es können sogar Frauen Rabbinerin werden", sagt Ehrlich und verweist auf die weltweit erste Frau in diesem Amt: Regina Jonas aus Berlin, die 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Auch gleichgeschlechtliche Paare sind in Beth Shalom willkommen. Hier gilt: Ehe für alle. "Ansonsten haben wir die gleichen Rituale, die gleichen Gebete und die gleichen Regeln."

Wie wichtig Ehrlich die Gleichstellung von Mann und Frau ist, merkt man an folgender Begebenheit: Als sie vor einigen Jahren mit ihrem zweiten Mann David Gall im Urlaub im spanischen Malaga eine Synagoge besuchte, durfte sie ihn nicht in den Gebetsraum begleiten. "Stattdessen wollte man mich in eine Putzkammer stecken!", empört sie sich noch heute. Nach orthodoxen Regeln sitzen Männer und Frauen in der Synagoge getrennt. Nichts für Ehrlich. Sie lehnte ab, wartete lieber eine Stunde in einem Café.

Die gebürtige Pragerin wirkt selbstbewusst. Sie gehört offenbar zu den Frauen, die nichts von überholten Regeln und Geboten halten. In ihrem Heimatland Tschechien, in dem einst der Kommunismus herrschte, wuchs sie ohne Religion auf.

1997 schloss sie sich der Gemeinde Beth Shalom (hebräisch: Haus des Friedens) in München an, die zwei Jahre zuvor von sieben Gläubigen gegründet wurde. Vier Jahre später fand dort die erste Hochzeit - zwischen ihr und David Gall - nach liberalem Ritus seit der Shoa in München statt.

Mehr als 600 Mitglieder

Aktuell zählt die liberale Gemeinde mehr als 600 Mitglieder, darunter auch "viele aus Israel, die seit dem 7. Oktober in München leben", ergänzt Ehrlich, die keine konkreten Zahlen nennen kann. Nur so viel: Die geflüchteten Israelis, die sich als säkular bezeichnen, wollen in München bleiben und lernen bereits Deutsch.

Über dem Vorlesepult, auf dem die Thora während des Gottesdienstes liegt, hängt das Ewige Licht (Ner Tamid). Es symbolisiert die kontinuierliche Präsenz Gottes. Sie erzählt, dass Schüler sie häufig fragen, was passiere, wenn der Strom ausfalle. Ihre einleuchtende Antwort: "Wenn der Strom wieder da ist, ist das Ewige Licht auch wieder da.

Der kostbarste Schatz, verschlossen in einem hellen Holzschrank, besteht aus vier Thora-Rollen. Sie sind eingewickelt in bestickte Samtmäntelchen, geschmückt mit Schilden und Kronen mit Glöckchen - wie es sich laut Ehrlich für eine Königin gehöre. 2017 ließ die Gemeinde eine Thora-Rolle, die bis zu 35 Kilogramm wiegen kann, in England neu schreiben.

Die 305.000 Buchstaben dürfen nur handschriftlich verfasst werden 

Dafür müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden: Die mehr als 305.000 Buchstaben dürfen nur handschriftlich mit einem Gänsekiel auf Pergamentpapier verfasst werden. Diese ehrenvolle Aufgabe kommt nur Männern zuteil. Dauer der Niederschrift: ein Jahr.

Ein Verschreiben ist für den Thora-Schreiber (Sofer) verboten. Sollte es doch zu dem Malheur kommen, weil auch er nur ein Mensch und keine Maschine ist, wird der fehlerhafte Abschnitt ausgeschnitten und der Schreiber beginnt von Neuem.

"Die letzten 18 Buchstaben wurden mit dem Sofer von ausgewählten Gemeindemitgliedern und Gästen geschrieben", erklärt Ehrlich. Und wie in vielen anderen Religionen auch, haben Zahlen im Judentum eine symbolische Bedeutung. "18 bedeutet Chai, Leben", sagt die Vorsitzende.

Sowohl während der Corona-Pandemie als auch nach den Terroranschlägen der Hamas im vergangenen Jahr wurden die Gottesdienste per Video-Stream übertragen. Vor allem der 7. Oktober löste bei vielen Gemeindemitgliedern Angst aus, angegriffen oder angefeindet zu werden, wenn sie die Synagoge besuchen. "Es hat gedauert, bis die Mitglieder wieder vor Ort teilnahmen", erinnert sich Ehrlich.

Synagoge soll umziehen

Erst kürzlich wurde das Pessach-Fest in Präsenz gefeiert; Bar Mitzwas (religiöse Mündigkeit für Jungen) und Bat Mitzwas (religiöse Mündigkeit für Mädchen) finden auch wieder vor Ort statt. In den ersten drei Monaten nach dem schwarzen Shabbat (Samstag) bewachte die Polizei die liberale Gemeinde rund um die Uhr. Künftig soll die Synagoge, deren aktuelle Räumlichkeiten an ein modernes Großraumbüro erinnern, in einem neuerrichteten Bau einziehen. Die Pläne stammen von dem amerikanischen Star-Architekten Daniel Libeskind.

Geplant ist, dass der an einen Bergkristall anmutende Komplex auf einem städtischen Areal im Lehel, nahe der Prinzregentenstraße, gebaut werden soll, wie es auf der Webseite der Gemeinde heißt. Ein konkretes Startdatum gibt es bisher nicht, auch zur Höhe der Bausumme kann Ehrlich nichts sagen, weil "wir noch Gespräche mit einem Investor führen".

Fest steht: In der ihr gebührenden, repräsentativen und öffentlichkeitswirksamen Form würde die liberale Synagoge in München zurückkehren. Denn die einstige Hauptsynagoge, in der nach liberalen Ritus gebetet wurde, befand sich am Lenbachplatz und wurde auf persönlichen Befehl Hitlers im Juni 1938 zerstört.

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