Ein Tag im Jobcenter: Der Münchner Hartz-IV-Report

Wer Hartz IV bekommt, muss sich an Regeln halten, sonst kann das Arbeitslosengeld sogar ganz gestrichen werden. Ein Tag im Jobcenter Pasing, wo die Angst vor Sanktionen greifbar ist.
von  Laura Meschede
Angst-Ort: Viele Menschen hab beim Gang zum Jobcenter wenig Hoffnung auf Besserung.
Angst-Ort: Viele Menschen hab beim Gang zum Jobcenter wenig Hoffnung auf Besserung. © dpa

München - Zehn Uhr im Jobcenter München-Pasing. Aus dem Besprechungszimmer kommt eine Frau Ende Vierzig, Rücken gebeugt, die Hände um einen Gehstock geklammert. Sie weint.

Die Frau heißt Alaya und lebt seit knapp einem Jahr ohne Geld. Weil sie bei ihrer Arbeit als Zimmermädchen in der Dusche ausgerutscht ist und seither nicht mehr richtig laufen kann – und weil sich die AOK und die Berufsgenossenschaft nicht einig werden können, ob dieser Unfall nun ein Arbeitsunfall war, und wer von ihnen zuständig ist.

Solange diese Frage nicht geklärt ist, bekommt Alaya kein Arbeitslosengeld, obwohl ihr das zustünde. Sie möge doch Hartz IV beantragen, wurde ihr vorige Woche geraten. Und deshalb ist sie heute hier, im Jobcenter.

Aber der Bescheid vom Arzt über ihre Arbeitsunfähigkeit hat das Jobcenter noch nicht erreicht. Deswegen haben sie ihr einen Termin gegeben, zur Arbeitsvermittlung. Nächste Woche. Wenn sie dort nicht erscheint, wird sie sanktioniert. Es ist ihr siebter Termin in einem Amt diesen Monat. Alaya rinnt eine Träne über ihre Wange.

4,3 Millionen Menschen in Deutschland beziehen Hartz IV. Knapp zehn Prozent von ihnen sind im vergangenen Jahr von den Jobcentern sanktioniert worden. Sanktioniert werden, das heißt: Das Arbeitslosengeld wird gekürzt. In einem Monat werden knapp 7.700 Menschen die Bezüge komplett gestrichen. Sie müssen ohne Geld auskommen. Ob diese Rechtspraxis verfassungskonform ist, ist umstritten.

Darf man ein "Existenzminimum" weiter kürzen? Im August 2016 hat das Sozialgericht Gotha diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das wird in den nächsten Monaten entscheiden: Verstoßen Sanktionen gegen die Menschenwürde?

Es ist wie ein Bermuda-Dreieck für Dokumente

Michael Kuhn – 31 Jahre alt, schlaksiger Gang, nervöse Stimme – sitzt auf einer der Holzbänke im Flur des Jobcenters und wartet darauf, dass seine Nummer aufgerufen wird. Zum x-ten Mal diesen Monat. Er muss ein Dokument abgeben, wieder einmal.

Bis nicht alle Dokumente da sind, kann das Jobcenter seinen Antrag nicht bearbeiten. Und solange sein Antrag nicht bearbeitet wird, bekommt er kein Arbeitslosengeld. Aber irgendein Dokument fehlt immer. "Und andauernd", sagt Kuhn, "fordern sie Dokumente an, die ich schon lange abgegeben habe."


Frustriert vor dem Jobcenter: Michael Kuhn (31). Foto: mes

Ein "Bermuda-Dreieck" nennt die Sozialrechtsanwältin Sonja Hein-Schneider die Jobcenter in Deutschland. Ein Bermuda-Dreieck für Dokumente. "Wenn wir Akteneinsicht beantragen", erzählt sie, "dann finden wir in den Akten häufig eben die Papiere, die laut dem Jobcenter angeblich noch gefehlt haben."

Sie bräuchte dann noch die Kontoauszüge vom Dezember, sagt die Frau vom Jobcenter. "Die habe ich nicht", sagt Michael Kuhn. Er blickt auf seine Hände. "Das ist ein Wirecard-Konto, man kann dort keine Auszüge ausdrucken." Was kann man da machen? Die Frau vom Jobcenter ist sich nicht sicher. Kuhn möge mal den Herrn L. fragen. Der müsste in wenigen Stunden hier sein. "In Ordnung", sagt Kuhn.

Einmal hat er der Frau vom Jobcenter gesagt, er könne verstehen, warum Menschen hier durchdrehen. Immer nur warten. Dokumente bringen. Andere Dokumente bringen. Warten. "Kein Wunder, dass die Leute irgendwann verrückt werden und sich anzünden", hat er gesagt – und die Frau vom Jobcenter hat den Sicherheitsdienst gerufen. Zwei große, schwere Männer, "die sahen aus wie die Muppets", sagt Michael Kuhn.

"Das Problem", sagt Martin Steidl, "ist meistens nicht der böse Wille der Jobcenter-Angestellten, sondern ihre Überarbeitung." Steidl war fast 30 Jahre lang Personalrat in verschiedenen Jobcentern in Deutschland. Seit er 2015 in Rente gegangen ist, arbeitet er ehrenamtlich bei der Erwerbslosen-Beratungsstelle von Verdi.

"Das ganze System Hartz IV ist darauf ausgelegt, es den Menschen möglichst schwer zu machen, Geld vom Staat zu bekommen", sagt Steidl. "Man nennt das ,vertreibende Hilfe’. Das bedeutet, die Hürde, die man überwinden muss, um Unterstützung zu bekommen, ist so hoch, dass viele Leute es gar nicht erst versuchen."

"Die Mitarbeiter sind zu wenige und haben viel zu viel zu tun"

Was es bräuchte, findet Steidl, wäre eine bessere Betreuung der Menschen in den Jobcentern. "Aber die Mitarbeiter sind viel zu wenige und haben viel zu viel zu tun – die haben dafür keine Zeit."

Er bräuchte noch die Kontoauszüge vom Dezember, sagt Herr L. vom Jobcenter "Die habe ich nicht", sagt Michael Kuhn. "Oh", sagt Herr L. Ob man das nicht irgendwie anders klären könne, fragt Kuhn. Herr L. ist sich nicht sicher. "Ich habe Ihren Fall mal an die Rechtsabteilung weitergegeben", sagt er. "Ich blicke da selbst nicht mehr durch." "In Ordnung", sagt Kuhn.

"Dieses System ist so kompliziert aufgebaut, da kann man ja gar nicht durchblicken", sagt Tina Mayer. Mayer – krause Locken, schwarz geschminkte Augen – steht vor dem Jobcenter in Pasing und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf das Gebäude. "Langsam kriege ich einen richtigen Hals."

Mayer ist alleinerziehende Mutter und arbeitet Teilzeit. Weil ihre 830 Euro Monatslohn zu wenig sind, um mit ihren zwei Töchtern über die Runden zu kommen, stockt sie ihr Einkommen mit Hartz IV auf.

Zumindest bis vor drei Monaten. Da ist ihre älteste Tochter volljährig geworden. "Und das Arbeitsamt findet, jetzt könne sie ja mit eigenem Einkommen zum Haushalt beitragen und hat mir das Arbeitslosengeld gestrichen", sagt sie.

"Jedes Mal, wenn ich hier bin, fällt ihnen etwas anderes ein"

Dass ihre Tochter, die gerade ihr Abitur gemacht hat, aktuell nicht arbeitet und damit auch nichts zum Haushalt beitragen kann, muss sie erst belegen. "Aber jedes Mal, wenn ich hier bin, fällt ihnen etwas anderes ein, das noch fehlt", sagt Mayer. In den vergangenen Monaten hat sie Schulden gemacht, viele Schulden: "Mit 830 Euro für drei Personen Miete, Kleidung und Essen bezahlen – unmöglich."

Tina Mayer heißt eigentlich anders. So wie auch Alaya. Mit ihrem richtigen Namen oder einem Foto in der Zeitung aufzutauchen, kommt für die beiden Frauen nicht in Frage. Sie haben Angst, sanktioniert zu werden, wenn sie sich beschweren.

"Man weiß ja nie, was denen noch einfällt", sagt Mayer. "Denn eines habe ich gelernt in den vergangenen Monaten: Die vom Jobcenter sitzen am längeren Hebel. Immer."


Martin Steidl Steidl war fast 30 Jahre lang Personalrat in verschiedenen Jobcentern. Seit er 2015 in den Ruhestand gegangen ist, arbeitet er ehrenamtlich für die Erwerbslosen-Beratungsstelle von Verdi. MIt der Az sprach er über die Situation der Mitarbeiter.

AZ: Herr Steidl, wie frei können Jobcenter-Mitarbeiter entscheiden, ob sie Sanktionen verhängen?
MARTIN STEIDL: Eigentlich ist der Ermessensspielraum da sehr groß. Nirgendwo steht offiziell, die Menschen sollten schikaniert werden. Aber gleichzeitig ist das System so aufgebaut, dass die Leute unter Druck geraten. Zum Beispiel wird für jeden Mitarbeiter eine Sanktionsquote errechnet. Und wenn die auffallend niedrig ist, dann wird da durchaus nachgefragt.

Das heißt, die Angestellten in den Jobcentern stehen unter Druck, Sanktionen zu verhängen?
Nicht offiziell. Aber zwischen den Zeilen schwingt das schon ein wenig mit. Das viel größere Problem ist aber die Überlastung. Viele Mitarbeiter in Jobcentern sind befristet angestellt. Die wollen ihren Job nicht verlieren, das ist ja klar. Und um das sicherzustellen, muss man vorlegen: zum Beispiel eine hohe Quote an unterzeichneten Eingliederungsvereinbarungen.

Was ist denn eine Eingliederungsvereinbarung?
Das ist ein Vertrag zwischen dem Arbeitsvermittler und dem Job-Suchenden. Darin werden die Maßnahmen festgelegt, die den Arbeitssuchenden betreffen. Also beispielsweise Ein-Euro-Jobs, Einzelcoachings und so weiter. Eigentlich sollten das individuelle Verträge sein. Seit dem 1. August 2016 ist sogar gesetzlich festgelegt, dass die Inhalte der Vereinbarung „verhandelt“ werden sollten.

Aber?
Aber die Jobcenter-Angestellten stehen unter einem wahnsinnigen Druck, sie müssen teilweise bis zu 400 solcher Vereinbarungen im Monat bekommen. Da ist dann nicht viel mit Verhandlungen. Oft wird den Leuten einfach ein Formblatt hingelegt und gehofft, dass sie es möglichst schnell unterschreiben. Deswegen sind viele dieser Vereinbarungen rechtlich angreifbar.

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