Ein Münchner, der nicht vergisst

"Durch mein ganzes Leben zieht sich die Suche nach Gemeinschaft“, beginnt Ernst Grube mit leiser Stimme. Klein und schmächtig, mit schlohweißem Haar steht er auf dem Königsplatz. Er wirkt verloren zwischen den imposanten klassizistischen Gebäuden, die den ehemaligen Aufmarschplatz der Nationalsozialisten umgeben. Grube ist einer der letzten Zeitzeugen für dieses dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Kaum ergreift der 82-Jährige das Wort, hören die ihn umringenden Menschen gebannt zu. Er spricht von Diskriminierung, Verfolgung und Protest.
75 Jahre zuvor. Es dauert nicht lange, bis der junge Ernst Grube ins Visier der nationalsozialistischen Diktatur gerät – als Sohn einer Jüdin und eines evangelischen Vaters, der mit den Kommunisten sympathisiert. Er wächst in der Herzog-Max-Straße am Stachus auf, dort, wo die Nazis die Hauptsynagoge der Münchner Juden im Juni 1938 auf Befehl Hitlers niederreißen.
„Mein Alltag war bestimmt durch das Nicht-Dazugehören“, sagt Grube. Schon als Achtjähriger muss er den gelben Judenstern an der rechten Brust tragen und wird dafür von seinen deutschen Altersgenossen verachtet und verspottet.
Unsicherheit prägt die Kindheit von Ernst Grube und seinen Geschwistern Werner und Ruth. Die Nazis werfen die Familie aus der Wohnung am Stachus, die Kinder kommen in ein jüdisches Kinderheim in der Schwabinger Antonienstraße. „Dort waren wir zwar von den Eltern getrennt, jedoch vor Anfeindungen geschützt“, sagt Grube. Im November 1941 ist Schluss mit dieser heilen Welt. Die meisten Kinder und die „Tanten“, wie er die Erzieherinnen nennt, werden nach Litauen deportiert und erschossen.
Grube und seine Geschwister haben Glück: Ihr Vater verweigert die Scheidung von seiner jüdischen Frau und bewahrt die Familie damit vor der sicheren Vernichtung.
Ein Erlebnis seiner kurzen Jugend bleibt Grube sehr in Erinnerung. Als die Alliierten die Stadt bombardieren, will der gerade mal Elfjährige zusammen mit anderen in den Luftschutzbunker gegenüber des Luisen-Gymnasiums am Hauptbahnhof flüchten. Ihm bleibt wegen seines Judensterns der Eintritt verwehrt. Grube wird später dem Journalisten Thies Marsen von diesem Moment erzählen: „Ich bin dann in den Botanischen Garten und hab mich unters Gebüsch gelegt. Rings um mich sind die Bomben gefallen“. Er überlebt. Knapp.
Die Kinder kommen in sogenannte Judenlager in Milbertshofen und Berg am Laim. „Im Februar 1945 kam dann der Brief, dass wir uns zur Deportation zu melden haben“, sagt Ernst Grube. „Das war ein Schock.“ Die Mutter wird zusammen mit ihren drei Kindern in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Am 8. Mai werden die Gefangenen von den vorrückenden russischen Truppen befreit. „Ohne die Rote Armee wäre ich heute nicht hier. Sie hat mir das Leben gerettet“, sagt Ernst Grube.
Grube überlebt das KZ, danach wird er zum Kommunisten
70 Jahre später steht Grube nun auf dem Königsplatz. Es nieselt und der Wind fegt über die ausgesetzte Weite dieses Orts, doch das stört niemanden. Die Menschentraube lauscht seiner Geschichte. Dieser Geschichte, die Grube schon an mehreren dutzend Schulen in Bayern erzählt hat. Heute erzählt er sie hier, um sich für Stolpersteine einzusetzen. Eine Initiative, die Gedenksteine im Boden verlegen will, um an Menschen zu erinnern, die von den Nazis umgebracht wurden. In der Stadt ist diese Form des Gedenkens umstritten, für Grube ist sie ein persönliches Anliegen.
Ernst Grubes Leben ist nicht nur durch Verfolgung geprägt, sondern auch durch Protest. „Ende der 40er Jahre heiratete ich meine erste Frau Erika Binder“, erzählt Grube. „Ihr Vater war Kommunist und im Widerstand gegen die Diktatur. Die Nazis haben ihn in Stadelheim erhängt.“ Über seine Frau lernt er Gleichgesinnte kennen, die seine Erlebnisse im Nationalsozialismus zum ersten Mal nachvollziehen können. Bei ihnen findet er die lange gesuchte Gemeinschaft und wird zum politischen Aktivisten.
Als DKP-Mitglied soll ihm sein Beruf verboten werden
Als Mitglied der Freien Deutschen Jugend und später der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) beteiligt er sich an der verbotenen Volksbefragung gegen den Aufbau der Bundeswehr und die „Militarisierung der Bundesrepublik“ Anfang der 50er Jahre.
Als die Gewerkschaften 1953 gegen die Ausweitung der Ladenschlusszeiten protestieren, wird er von der Polizei in der Kaufingerstraße festgenommen. „Die Polizisten haben uns mitten auf der Straße verprügelt, ich habe schützend meine Hände über den Kopf gehalten“, sagt Ernst Grube. Wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ wird er zu sieben Monaten Haft in Stadelheim verurteilt. 1956 wird die KPD verboten. Eine zweite mehrmonatige Haftstrafe erfolgt 1958, als er beim Verteilen der illegalen Parteizeitung „Freies Volk“ am Justizpalast erwischt wird. In den 70er Jahren, Ernst Grube ist mittlerweile Berufsschullehrer für Farben und Lacke, soll er als Mitglied der neugegründeten Deutschen Kommunistischen Partei Berufsverbot bekommen. „Erst als ich dem Sachbearbeiter im Rathaus am Marienplatz meinen Judenstern auf den Tisch gelegt habe, änderte sich die Stimmung.“ Der Bescheid wird ohne Gerichtsprozess aufgehoben – ein bundesweit einmaliger Fall.
Auch in jüngeren Jahren wird Grube noch unter Verdacht gestellt, erhält aber auch Anerkennung. So etwa 2011. Damals wird er namentlich im Verfassungsschutzbericht genannt. In den Augen mancher bayerischer Behörden scheint er immer noch eine potenzielle Gefahr darzustellen. Der Vorwurf: Er nütze als Linksextremist seine Arbeit in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) aus, um kommunistische Ziele zu propagieren.
An Schulen vermittelt er, wie wichtig die Demokratie ist
Da Ernst Grube in der Münchner Zivilgesellschaft anerkannt ist, regt sich Unmut – etwa von kirchlicher Seite und aus der SPD. „Da gab es dann schon viel Protest und Solidarität“, betont er. Dies führt zu einem Teilerfolg: Sein Name wird aus dem Bericht gestrichen. Die VVN wird dort nach wie vor genannt.
Heute genießt Ernst Grube Unterstützung von vielen Seiten. „Ich schätze ihn sehr weil er als Zeitzeuge in Schulen auftritt und sehr deutlich macht, wie notwendig es ist, für demokratische Verhältnisse einzustehen“, sagt Barbara Kittelberger, evangelische Stadtdekanin in München.
Der stellvertretende CSU-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag und Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Karl Freller, betont die Gemeinsamkeiten in der Zusammenarbeit mit Ernst Grube in der Stiftung. Er sagt: „Die Person ist bei mir überaus positiv besetzt.“ Ernst Grube sagt dazu: „Diese Unterstützung in München hatte es in jedem Moment meines Lebens gegeben. Es gab eben nicht nur Verfolgung, sondern immer auch Solidarität.“
2002 erhält er für seine Lebensleistung die Medaille „München leuchtet“ in Silber. Heute ist er stellvertretender Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau und im politischen Beirat des erst kürzlich eröffneten NS-Dokumentationszentrums. Derzeit setzt er sich mit dem SPD-Landtagsabgeordneten Florian Ritter und vielen anderen Politikern und Prominenten für die Streichung der VVN aus dem bayerischen Verfassungsschutzbericht ein. „Immer noch werden wir als Antifaschisten diffamiert“, sagt er. „Das muss aufhören.“
Als Ernst Grube seine Rede am Königsplatz beendet und vom Mikrofon zurücktritt, wirkt er gar nicht mehr so klein und verloren.