Ein Leben mit Sten
München - Fast bis zum Handgelenk hinauf ist der kleine Arm vollgekleckert mit Kartoffelbrei – Sten grinst zufrieden, das Gesicht ist auch verschmiert. Auch auf dem Bild mit dem Teddybären lacht er fröhlich. Selbst auf den Bildern, auf denen ein Beatmungsschlauch in seinen kleinen Hals führt, schaut er meist vergnügt.
Überall in der Wohnung hat Anja Semler die Fotos von ihrem Sohn aufgehängt, der seinen dritten Geburtstag nicht mehr erlebt hat. Sie sollen auch immer bleiben, sagt die kleine blonde Frau. Sie behält sie nicht, um sich traurig an ihn zu erinnern – sondern um an das schöne Leben zu denken, das die Familie mit Sten hatte.
An den Wänden der hellen, bunt gestalteten Wohnung im Münchner Norden hängen auch ein paar schöne Aufnahmen von ihrem zweiten Sohn. „Irgendwann wird Leon mich fragen, warum es von ihm viel weniger Bilder gibt“, sagt Anja Semler. „Dann werde ich ihm sagen: Weil ich dich an jedem Tag in den Arm nehmen und drücken konnte.“ Mit Sten ging das nicht. Er war zu zerbrechlich.
Als er im Oktober 2012 zur Welt kommt, fehlen im Säuglingsreflexe wie der zum Greifen oder Saugen. Die Ärzte führen das erst auf die Strapazen der Geburt zurück, aber zwei Tage später ist gewiss: Der Junge hat eine schwere Hirnfehlentwicklung. Was das bedeuten könnte? Alles sei möglich, sagen die Ärzte – von einer leichten Lernschwäche bis zu einer Mehrfachbehinderung.
Mehrere Spezialisten untersuchen und diagnostizieren Sten, ohne sich miteinander abzusprechen. „Jeder Fachmediziner hatte irgendeine Idee zu einem der Symptome.“ Als Sten vier Monate alt ist, beginnen seine Knochen zu brechen.
Papa Andreas bleibt das ganze erste Jahr über für ihn daheim. Mama Anja kauft eine Nähmaschine und näht Sten-Kleidung: winzige Hosen und Pullover mit Knöpfen überall, damit sie den Kleinen anziehen können, ohne seine feinen Gliedmaßen in Ärmel und Hosenbeine schieben zu müssen.
Die Familie lebt nach dem Prinzip Hoffnung: Jeder kleine Fortschritt wird begeistert angenommen. Es wird bald klar, dass Sten nie krabbeln wird und nie sprechen, doch er beginnt zu lautieren. Und er strahlt und lächelt viel.
Dennoch: „Das erste Jahr war ganz schlimm und ganz schwierig“, sagt Anja Semler. „Es war ein langer Prozess für mich, auch ein Trauerprozess, zu begreifen, dass ich ein behindertes Kind habe.“
Es ist nicht viel von einem Alltag da. Der Junge ist höchst instabil. Er muss überall hingetragen werden, an manchen Tagen stehen gleich zwei Arzttermine an. In eine normale Krabbelgruppe kann Sten nicht, die Eltern haben kaum Zeit, am normalen Leben teilzuhaben.
Stens Krankheit war bisher unbekannt und ist ein riesiger Zufall
Dann wird Anja Semler wieder schwanger. „Ich konnte nicht mit der Ungewissheit leben, ob der Grund für Stens Behinderung vielleicht ein Schluck Wein war oder ein Medikament, das ich während der Schwangerschaft genommen habe“, erzählt sie. In einem Forschungsprojekt lassen sie Stens komplettes Genom aufwendig untersuchen. Als Anja Semler in der 35. Woche schwanger ist mit Leon, finden die Mediziner die Mutation. Sie ist vererbbar – rezessiv. Es ist ein riesiger Zufall, dass beide Eltern sie haben.
Sten hat eine Krankheit, die nie zuvor am Menschen beschrieben wurde – und auch bisher nicht wieder. Er hat eine schwere Muskelschwäche, die sich verschlimmert, und eine neue Variante der Glasknochenkrankheit. Dazu kommt eine schwere Hirnfehlbildung, ein dauerhaft zu niedriger Blutdruck, eine Unterversorgung der Zellen mit Energie, Kalziumeinlagerungen in den Nieren, fehlende Reflexe.
„Die letztendliche Diagnose war nur ein Wort“, sagt Semler. „Aber für mich war es eine Entlastung. Zu wissen, dass die Verschlechterungen nicht daher kommen, dass wir zu wenig tun, war eine Befreiung.“
Und noch etwas hilft – oder besser: jemand. Die Physiotherapeutin, die jede Woche für Sten vorbeikommt und sich liebevoll um ihn kümmert, ruft für die erschöpften Eltern an bei der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM).
„Sie sagte: ,Erschrecken Sie nicht vor dem Wort Hospiz, das ist anders als bei Erwachsenen. Die Kinder sind nicht dort, um zu sterben‘“, erinnert sich Anja Semler. „Da konnte ich mir aber unter dem Wort sowieso noch gar nichts vorstellen.“
Das ändert sich, als Sabine Fellermayer in ihr Leben tritt – die Koordinationsfachkraft des Kinderhospizes. Sie schreibt Finanzierungs-Anträge, organisiert für die Familie einen Behindertenparkplatz vor der Wohnung, fragt Pflegeheime an, erkämpft den so wichtigen Reha-Buggy, vermittelt eine ehrenamtliche Betreuerin, die nicht nur Sten, sondern die ganze Familie unterstützt.
„Wir hätten diese Hilfe schon viel früher gebraucht“, sagt Semler. „Die ersten eindreiviertel Jahre haben wir uns allein durch völliges Neuland gekämpft. Wir haben einiges für Sten erreicht, aber hätten uns viel Zeit, Arbeit und Tränen sparen können, wenn von Anfang an jemand da gewesen wäre, der sich hauptberuflich auf dem Gebiet auskennt.“
„Ich bin verdammt stolz auf das, was wir für ihn geschafft haben“
Kurz vor seinem zweiten Geburtstag kann Sten nicht mehr selbst atmen. Ab da muss er immer über eine Öffnung in Hals und Luftröhre mit dem Beatmungsgerät verbunden sein.
An dem Tag, an dem die Ehrenamtliche Sarah zum ersten Mal vorbeikommt, geht es Sten plötzlich viel schlechter. Er kommt auf die Intensivstation und von dort nicht mehr heim. Stattdessen bekommt er einen Platz im Pflegeheim „Kinderhaus AtemReich“, wo ihn seine Familie fast täglich besucht.
„Wir haben nie mit seinem Tod geplant“, sagt Anja Semler. „Wir haben immer das Beste für sein Leben organisiert. Ich bin verdammt stolz auf das, was wir für ihn geschafft haben.“
Am 21. September 2015 stirbt Sten im Krankenhaus. Auch Sarah ist dabei, Anja Semler hat sie dazugeholt. „Sie war ein riesengroßes Geschenk für uns. Sie hat nicht im Rahmen eines Jobs geholfen, sondern mit viel persönlicher Liebe.“
Anja Semler geht das Leben nun erstmal ruhig an. Noch arbeitet die Betriebswirtin nicht wieder, sie ist vor allem für sich und den fast zwei Jahre alten Leon da. „Ich bin froh, dass Sten da war“, sagt sie. „Ich habe es nie bereut. Es war toll, ihn kennenzulernen. Und ich hoffe, er bleibt uns in den Erinnerungen noch sehr lange nah.“
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