Ein junger Münchner Uhrmacher im AZ-Interview: "Es gibt Werke, die sind 150 Jahre alt"
AZ: Herr Magerstädt, Sie sind Jahrgang 2003. In Ihrem Freundeskreis dürften sich nicht allzu viele für eine Ausbildung zum Uhrmacher entschieden haben, oder?
LEON MAGERSTÄDT: In meinem Freundeskreis entscheidet sich generell kaum jemand zu einer Ausbildung. Fast alle aus meinem Abiturjahrgang studieren. Ich kenne keine weiteren Uhrmacher in meinem Umfeld, nein.
Sie waren gerade für einige Wochen auf der Würzburger Berufsschule für Uhrmacher. Wie viele Schüler sind da?
Knapp 20 Leute sind in meiner Klasse. Es gibt drei Lehrjahre. Also insgesamt etwa 60 Schüler.
Dort sind nur bayerische Uhrmacher-Lehrlinge?
Die Schule ist zuständig für die duale Ausbildung in vier Bundesländern.
Die Altersspanne?
Einige entscheiden sich sehr spät für den Beruf. Einer von uns war am Anfang der Ausbildung 16, eine andere ist Mitte vierzig.
Uhrmacher sind gefragt, oder?
Es gibt sehr viel Arbeit. In den letzten Jahren ist nach der Smartwatch-Welle ein Hype um mechanische Uhren entstanden.
Könnten Sie eine Smartwatch reparieren oder warten?
Nein, das ist etwas völlig anderes. Ich könnte sie vielleicht öffnen und verschließen.
Hat Sie schon mal jemand gefragt?
Ja, tatsächlich.
"Smartwatches fasse ich nicht an, die kann ich nicht reparieren"
Ihre Antwort?
Keine Ahnung, mach ich nicht.
Geht es in Ihrem Job nur um Luxusuhren?
Nein, es gibt erschwingliche Modelle, die sehr alltagstauglich sind. Quarz-Uhren zum Beispiel. Ich trage selbst gern welche. Auch eine spannende Technik. Sie haben andere Ansprüche. Die Werke sind zum Teil aus Plastik, leicht ersetzbar und halten nicht so lange wie rein mechanische Modelle.
Wie lange halten die Mechanischen?
Es gibt Werke, die sind 150 Jahre alt und funktionieren immer noch perfekt.
Für die Entscheidung, Uhrmacher zu werden, hatten Sie da einen Schlüsselmoment?
Das kann man so sagen. Ich war 15 und habe zwei Swatch-Modelle meines Vaters zum Uhrmacher gebracht. Der meinte, eine kann er reparieren, die andere nicht. Ein Drücker war defekt und er wollte die Batterie nicht tauschen. Da packte mich der Ehrgeiz. Und ich habe es geschafft, den Drücker selbst zu reparieren. Die Batterie zu tauschen war eh supereinfach.
Wie ging es weiter?
Ich kaufte auf Ebay Schrottuhren und versuchte, sie zu reparieren. Die ersten Versuche waren nicht alle erfolgreich. Ich musste mich an das Thema herantasten.
Ohne Lupe kommt man nicht weit, oder?
Je nach Arbeit verwende ich drei verschiedene Augenlupen. Und für richtig kleine Teile nehmen wir auch das Mikroskop. Bei Damenuhren sind die Werke besonders kleinteilig.

Wie klein sind die kleinsten Bestandteile eines Uhrwerks?
Räder haben am Ende einen Zapfen. Der ist besonders klein, bis zu 0,08 Millimeter. Mit dem bloßen Auge erkennt man das Teil kaum.
Wie setzt man so etwas ein?
Mit einer sehr feinen Pinzette.
Zuletzt erzählte der Münchner Hutmacher Alexander Breiter, dass er mehrere Hundert Hüte zu Hause hat. Wie viele Uhren hat ein Uhrmacher?
Ich kann es leider nicht genau sagen.
Das glaube ich jetzt nicht.
Also, auf meinem Instagram-Account „munichvintagewatches“ habe ich 160 Modelle gepostet. Einige davon besitze ich nicht mehr. Es sind aber bei Weitem nicht alle, die ich habe.
Eine grobe Zahl?
150 bis 200 würde ich sagen.
Die muss man alle am Laufen halten.
So lernt man dazu.
"Je nach Laune trage ich eine andere. Nur unter der Dusche habe ich keine Armbanduhr"
Sie können doch nur eine tragen?
Ich habe einige Lieblingsuhren, die trage ich oft. Eine Longines aus den 60er Jahren ist darunter, mit Diamanten auf dem Ziffernblatt. Sehr fancy. Oder eine Movado aus den 30ern. Das ist eine der Schönsten, finde ich. Aber je nachdem, wie ich mich gerade fühle, trage ich eine andere. Das geht ja mit Armbanduhren ganz einfach. Manche passen zum Anzug, andere zum Jogginganzug.
Wo lagern Sie die alle?
Die liegen daheim überall rum.
Wann tragen Sie keine Uhr?
Nur unter der Dusche.
Haben Sie eine Smartwatch?
Irgendwo habe ich eine, ja. Ich habe sie auf einem Flohmarkt entdeckt und wollte verstehen, was die Leute daran finden, so ein teures Gerät zu kaufen, das nach fünf Jahren völlig veraltet und unbrauchbar ist. Nach zwei Tagen hat sie mich total aufgeregt, weil sie ständig leer war.
Im Gegensatz dazu steht die mechanische Uhr?
Ein bisschen Stahl, ein bisschen Messing und sie halten für die Ewigkeit.
Wie viele Teile hat so eine mechanische Armbanduhr eigentlich?
Ich würde schätzen, mindestens 50.
Nur?
Na ja, mindestens. Von der Marke Vacheron Constantin gibt es Modelle, die etwa tausend Teile haben.
Wie bitte, tausend?
Das Modell heißt 57260. Ein Jubiläumsmodell. Ist wirklich etwas Besonderes und hat sehr viele sogenannte Komplikationen, also Funktionen, nämlich 57.
Was kann die denn alles?
Datum, Mondphase, Chronograph, Jahreszeiten, Nachtlänge, Sternzeichen, Sternenhimmel-Anzeige . . . alles, was man sich ausdenken kann.
Klingt wie ein Wunderwerk.
Das ist sie.
Könnten Sie die warten?
Auf keinen Fall! Daran haben drei Uhrmacher fünf Jahre gearbeitet. Und nur die kennen sich damit aus.
Was kostet so ein Wunderwerk?
Ein paar Millionen Euro.
Und zur Wartung muss man sie immer zu diesen drei Uhrmachern bringen?
Ja. Wenn die sterben sollten, wird es kompliziert.
Wie entwickelt sich das Handwerk eigentlich weiter?
Man will immer speziellere Ansprüche erfüllen. Es gibt zum Beispiel ein Tauchermodell, das bis zu 10.000 Meter wasserdicht ist. Man könnte also zum tiefsten Punkt der Meere damit tauchen und theoretisch noch weiter. Man will es auf die Spitze treiben. Vacheron hat eine weitere Uhr gebaut, die sogar 63 Komplikationen hat, die Berkley Grand Complication.
Sie hat 2877 Teile, liest man auf den Seiten von Vacheron. Die komplizierteste Uhr der Welt nannten Sie Journalisten. Wie viele Teile haben die Uhren, die Sie meistens warten?
Ich würde sagen, zwischen 100 und 200.
Und die Teile könnten Sie alle aufzählen?
Das ist der Plan, spätestens nach der Ausbildung.
Sie sagten, es gibt einen neuen Hype um mechanische Uhren. Seit wann stellen Sie den fest?
In etwa seit Corona, ab 2022 würde ich schätzen.
Wie äußert der sich?
In Social Media beispielsweise damit, dass Leute ihre Uhrensammlungen posten. Das sieht man viel häufiger. Es herrscht großes Interesse.
"Es gibt Modelle, die kosten gebraucht mehr als neu"
Und die Preise?
Das war eine Zeit lang extrem. Bei Rolex findet man Modelle, die auf dem Gebrauchtmarkt mehr kosten als neu. Das Modell Daytona zum Beispiel. Die war irgendwann doppelt so teuer. Das ist teilweise wie bei limitierten Ferraris.
Die Hersteller bringen also extra limitierte Modelle heraus?
Klar. Sie wollen die Nachfrage hoch halten. Aber es steckt so viel Tradition, Handwerk, Technik und Design dahinter. Das schätzen die Käufer.
Was macht das Thema so interessant?
Es gibt eine große Sammlerszene. Mal abgesehen von den Luxusuhren kann jeder ziemlich einfach einsteigen. Um besondere Autos zu sammeln, muss man im Grunde Millionär sein. Wer aber tausend Euro hat, kann sich schon eine sehr schöne kleine Uhrensammlung zusammenstellen. Sie machen Spaß und sind ein Designelement.
Und eine gute mechanische Armbanduhr kann man auch weiter vererben?
Wenn sie regelmäßig gewartet wird, ja.
Was ist die teuerste Uhr, die Sie haben?
Hmm, das ist schwer zu sagen. Ich habe eine Unwiederbringliche von 1943, aus Gold. Ein Goldschmied in Paris hat sie als Einzelstück angefertigt. Kein Logo, kein Name, hochqualitatives Schweizer Uhrwerk von der Firma Gruen, die es nicht mehr gibt und deren Häuser heute zu Rolex gehören.
Dafür würden einige Leute ziemlich viel Geld zahlen, oder?
Ich habe mal ein Foto auf meinem Instagram-Account gepostet und es kamen schon vierstellige Angebote.
Wie sind Sie an so ein Einzelstück gekommen?
Auf einer Uhrenmesse vor drei Jahren in Furtwangen. Ein Händler aus Italien bot sie an. Ich war sofort verliebt in die Geschichte und in die Optik, hob das Geld ab und kaufte sie.
Wie viel?
Will ich nicht sagen.
"Bei der Arbeit schaut man manchmal stundenlang nicht auf"
Armbanduhren werden auch gerne mal geklaut, direkt vom Arm.
Eigentlich verstehe ich das nicht. Eine gestohlene Uhr wird immer gestohlen bleiben. Sie wird nie so viel wert sein, wie sie eigentlich ist. Anhand der eingestanzten Seriennummer kann man immer herausfinden, woher sie stammt, wann sie gekauft wurde oder wer der erste Käufer gewesen ist.
In München wurden eine Zeit lang sehr viele Modelle der Marke Patek Philippe gestohlen. Sie kosten schnell mehr als 100.000 Euro. Kann eine Marke so viel wert sein?
In solchen Marken steckt sehr viel Entwicklungsarbeit und Zeit. Sie sind handgefertigt.
Uhren herzustellen oder zu warten ist Geduldsarbeit, oder?
Auf jeden Fall. Es ist auch viel Konzentration und Feingefühl dabei. Manchmal schaut man stundenlang nicht auf.
Wenn Uhren versteigert werden, sprechen alle von Full Set, quasi Papiere, Box und Garantiekarte. Ist das wichtig?
Zum Tragen ist es unwichtig. Aber es zeigt, dass die Uhr gut behandelt wurde. Man sieht, wer sie gekauft hat, wie viel sie ursprünglich kostete. Je nach Modell zahlen Käufer bis zu tausend Euro mehr, wenn man all die Papiere hat.
"Schätze auf dem Flohmarkt finden? Selten heutzutage"
Manche Hobbyhändler träumen davon, auf dem Flohmarkt ein günstiges Modell zu entdecken, das eigentlich ein wahrer Schatz ist. Realistisch?
Nicht ausgeschlossen. Aber eher selten. Einem guten Freund ist es passiert. Er kaufte ein Modell von Jaeger LeCoultre für fünf Euro. Es war 1500 Euro wert. Ich kaufe manchmal auf Flohmärkten Modelle für etwa 50 Euro, die dann bis zu 300 Euro wert sind. Die meisten Verkäufer kennen sich inzwischen ganz gut aus. Und im Zweifel schaut man kurz im Internet.
Haben Sie einen anderen Bezug zum Thema Zeit durch Ihren Job?
Man ist vielleicht etwas gelassener. Ich freue mich einfach nur, wenn ich auf einer schönen Uhr die Zeit ablese.
Was halten Sie eigentlich von der Zeitumstellung?
Das ist einerseits der schlimmste Tag des Jahres, weil ich dann alle meine batteriebetriebenen Uhren umstellen muss. Andererseits ist es auch ein sehr schöner Tag, weil die Abende länger werden und man die Sonne nach der Arbeit genießen kann.
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