Ein Jahr nach dem Amoklauf: Wir, die Menschen vom OEZ

München - Eine Verkäuferin will gar nicht sprechen. Sie sei noch in ärztlicher Behandlung, sagt sie, seit dem Amoklauf leide sie an Angstzuständen. Sie dreht sich weg, mit Tränen in den Augen.
Drei Jugendliche, die eben noch lachend vor einem Schaufenster bunte Wasserpfeifen betrachtet haben, werden plötzlich sehr still. Sie kannten Jugendliche, die im McDonalds-Restaurant gestorben sind. Sie gehen wortlos.
135 Geschäfte gibt es im Olympia-Einkaufszentrum, auf der Hanauer Straße etliche weitere – darin Menschen, die seit dem Tattag immer wieder hierher zurückkehren.
Wir haben sie gefragt, wie sie den Tag erlebt haben – und wie er ihr Leben verändert hat.
"An den meisten Tagen geht es"
Verkäuferin Samira B., 21: "Der Tag war für mich nicht real. Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, was los ist. Wir haben Schüsse gehört, dann ihn gesehen. Haben uns erst eingeschlossen und sind später durch den Center-Notausgang raus.
Die Wochen danach waren sehr unangenehm. Ich wollte nicht hier sein, ich wollte nicht allein arbeiten. In der ersten Woche hat der Chef uns öffnen und schließen lassen, wie wir uns fühlten.
Ich achte jetzt viel mehr auf andere Menschen, ich schaue sie mir genau an. An manchen Tagen bin ich noch sehr ängstlich, an den meisten geht es aber.
Ich gehe generell nicht gern auf Konzerte, und wenn ich mich jetzt entscheiden muss, ob ich irgendwo hingehen will, wo Menschenmassen sind, überlege ich sehr genau. Meistens gehe ich dann aber. Man muss ja trotzdem noch Spaß im Leben haben. Und es wäre schon großes Pech, wenn einem zweimal sowas passiert."
"Es kann einen überall treffen"
Verkäuferin Irina M. (Name geändert): "Ich hatte an dem Tag Urlaub, aber in der Zeit danach hat sich schon viel verändert. Viele Stammkunden bleiben weg. Manche sind inzwischen wiedergekommen – ‘Ich war lange nicht hier wegen dem’, sagen sie dann. Ich verstehe ja die Leute, die an dem Tag hier waren. Dass die ein Trauma haben, dass der Ort Erinnerungen weckt. Es ist aber völliger Schwachsinn, Angst an einem Ort festzumachen. Es kann einen ja überall treffen."
"In Angst verstecken hilft nicht"
Computerspiel-Verkäufer Chris, 25: "Das hat nichts mit mir persönlich gemacht. Ich bin da zum Glück sehr realistisch: Es kann jeden Tag irgendein Scheiß passieren, und sich in Angst zu verstecken hilft ja auch nichts – ob ein Depp mich mit seinem Auto überfährt oder ein Depp mit seiner Waffe um sich schießt, kann ich nicht verhindern.
An unserem Sortiment haben wir direkt nach dem Amoklauf nichts geändert. Bei Computerspielen kommt es ja auch immer auf den Kopf desjenigen Menschen an, der es spielt, auf die geistige Reife. Ich finde es auch bedenklich, dass hier öfter mal Eltern reinkommen, die für ihren 13-Jährigen ein Ego-Shooter-Spiel haben wollen wie ‘Call of Duty’ in der Version ab 18. ‘Das haben alle in seiner Klasse’, sagen sie dann."
"Ich lasse die Gedanken gar nicht zu"
Mitarbeiterinnen Spirituosen-Geschäft (Namen geändert): Amalia: "Wir haben bis Weihnachten gemerkt, dass deutlich weniger Leute kamen. Mütter lassen ihre Kinder nicht her, einige Center-Mitarbeiter haben gekündigt. Dieser Ort hat für viele Menschen jetzt mit Tod und Leid zu tun. Ich gehe trotz allem jeden Tag her, ich lasse die Gedanken an Angst gar nicht zu.
Was mich bewegt, ist eher das Wissen, dass wir bei vielen Menschen gar nicht bemerken, wenn sie psychisch krank sind. Oder es wie in diesem Fall auch nichts ändert."
Anna: "Die ersten Wochen nach dem Amoklauf war es auf den Gängen hier unheimlich still. Ich persönlich habe keine Angst vor Amok oder Anschlägen, auch seitdem nicht. Es hat mich nur erschüttert und schockiert."
"Die Leute sind abgestumpft"
Reparateur Gustav Stetter: "Ich wollte eigentlich an dem Tag nochmal hier reinkommen, habe das dann aber doch auf Samstag verschoben. Ich glaube aber, auch wenn ich dagewesen wäre, bräuchte ich nicht die Gedenkveranstaltung, um das zu verarbeiten. Ich kläre solche Dinge eher mit mir.
Allerdings habe ich zwei Kinder. Meine 18-jährige Tochter geht normalerweise mit ihrer Freundin immer ins OEZ, an dem Tag zufällig doch nicht. Ich sage jetzt schon nochmal, dass sie mit niemandem mitgehen soll, den sie nicht kennt. Dass sie mich unbedingt anrufen soll, wenn irgendwas ist. Das habe ich auch vorher gesagt, aber jetzt erinnere ich sie öfter daran.
Ich finde es gut, dass sie jetzt mit dem Boxen angefangen hat, auch wenn das auf gar keinen Fall damit zu tun hat.
Grundsätzlich schaue ich seitdem auch mehr, gebe mehr Obacht. Darauf, was für Leute so in der Nähe herumlaufen. Dieser Tag hat die Leute vielleicht daran erinnert, dass sie doch verletzlich sind. Man sieht ja jeden Tag so viel im Fernsehen, da sind eigentlich alle eher abgestumpft."
"Jetzt denke ich bei Feuerwerk an Schüsse"
Imbiss-Besitzer Ahat Habibulu, 47: "Ein bisschen Angst habe ich jetzt immer. Ich habe am 22. Juli die Schüsse gehört, aber als Erstes gedacht, dass es Feuerwerk ist. Heute denke ich, wenn ich Feuerwerk höre, als Erstes an Schüsse. Als dann Menschen an meinem Laden vorbeirannten, merkte ich, dass etwas passiert sein musste. Alle hatten Panik in den Augen. Wir haben uns hier eingeschlossen. Als ich endlich nach Hause kam zu meiner Frau und unseren Kindern, haben wir geweint. Einfach den ganzen Abend geweint.
Für zwei, drei Monate habe ich mich immer schlecht gefühlt, habe an keinem Tag gelacht. Jetzt geht es wieder. Auch in den Laden kommen wieder mehr Menschen.
Meine Familie hat aber immer noch Angst. Nicht davor, dass so etwas noch einmal passiert. Sondern vor den Deutschen, die Angst haben vor den Muslimen. Beim Lidl hat letztens ein Mann meine Frau beschimpft, weil sie Kopftuch trägt. Meine Tochter kam vor Kurzem weinend nach Hause, weil ein Mann sie angespuckt hat. ‘Scheiß Ausländerin’ hat er gesagt, dabei ist sie hier geboren. Nach 20 Uhr lasse ich meine Töchter nicht mehr rausgehen, weil ich Angst um sie habe."
"Ich gehe nicht mehr in dunkle Keller"
Verkäuferin Jasmin N., 16 (Name geändert): "Ich habe am Tag des Amoklaufs noch nicht hier gearbeitet, sondern war mit meiner Mutter hier unterwegs und zufällig auch im McDonalds. Wir haben nur Leute schreien gehört, dann sind wir rausgerannt. Eine Frau hat uns dann in ihrem Auto mitgenommen, meine Tante wohnt hier in der Nähe.
Am Montag danach musste ich zurück ins Center, weil ich meine Tasche, mein Handy, meinen Geldbeutel in einem Spind an der Info eingeschlossen hatte zum Shoppen. Das war schlimm, ich bin schnell rein und sofort wieder raus.
Meine Mama und ich konnten danach sehr schlecht schlafen, wir waren einfach nur froh, dass wir leben. Inzwischen ist eigentlich alles wieder wie vorher. Außer, dass ich natürlich noch Angstzustände habe. Wenn ich im Fernsehen was sehe wie den Anschlag in Berlin oder die Schießerei am Bahnhof letztens in Unterföhring, dann kommt alles wieder hoch. Und ich gehe nicht mehr allein in dunkle Keller. Aber sonst ist alles normal.
Ich mache auch nichts anders seitdem. Man muss ja irgendwie normal weitermachen. Mit meiner Mama habe ich sehr viel geredet und mit meiner besten Freundin.
In den McDonalds würde ich wahrscheinlich nicht mehr gehen. Aber ich arbeite halt hier."
"Der Hass trifft mich viel mehr"
Matratzengeschäft-Mitarbeiter Marco Jung: "Meine Kollegin und ich waren an dem Tag hier, wir haben uns mit etwa 15, 20 anderen Menschen hier im Geschäft eingeschlossen. Wir sind hier recht gut davongekommen, ich bin vor allem froh, dass wir vielen Kindern und Muttis Unterschlupf gewähren konnten.
An Weihnachten kam ein junger Mann vorbei, der hier mit uns eingeschlossen war, dessen Bruder unter den Verletzten vom McDonalds war. Er hat Bescheid gesagt, dass sein Bruder jetzt wieder laufen lernt, nachdem er eine Kugel an die Wirbelsäule bekommen hat. Das hat mich sehr froh gemacht.
Ich habe das ganz gut verarbeitet, wir haben in der Firma sehr viel Rückhalt bekommen, auch von der Berufsgenossenschaft. Ich kann aber verstehen, wenn manche jetzt nicht mehr hier arbeiten können.
Ich hoffe nur, dass jetzt nicht noch mehr auf die Rassismus-Schiene gehen, mit der macht man es sich viel zu einfach. Dieser Hass trifft mich viel mehr als so ein blöder Amokläufer. Es ist unsere Pflicht, aufzupassen, dass das nicht ausartet."