Story

Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine: "Ich wünsche uns Weihnachten in Frieden und Freiheit"

Maria Degtiarenko ist mit ihren Kindern nach München geflohen. Hier unterrichtet sie Deutsch – und hofft auf ein Ende des Krieges.
von  Emma Christ
Nach einem Raketenangriff der russischen Armee löschen Feuerwehrleute brennende Häuser in der Stadt Zatoka, unweit von Odessa.
Nach einem Raketenangriff der russischen Armee löschen Feuerwehrleute brennende Häuser in der Stadt Zatoka, unweit von Odessa. © AFP

München - Es ist der 24. Februar 2022 als Maria Degtiarenko mitten im morgendlichen Stress die Nachricht bekommt, ihre Tochter Daria könne an diesem Tag nicht zum Unterricht in die Grundschule kommen. Es habe einen Angriff außerhalb der Millionenstadt Odessa gegeben. Es ist der Beginn der russischen Invasion, der heute genau sechs Monate zurückliegt.

Erst als Kriegsschiffe vor Odessa aufkreuzen, flüchtet Maria

Seitdem ist eine knappe Million Menschen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland geflohen, davon laut bayerischem Innenministerium etwa 150.000 in den Freistaat. 14.000 kamen nach München. Maria Degtiarenko ist eine von ihnen.

Maria Degtiarenko in München.
Maria Degtiarenko in München. © Bernd Wackerbauer

Doch die 47-Jährige entscheidet sich nicht sofort zur Flucht. "Niemand hat das ernst genommen und niemand hat geglaubt, dass ein Krieg stattfinden würde", erinnert sie sich. Die Menschen seien voller Hoffnung gewesen, dass die Angelegenheit auf diplomatischer Ebene geregelt werden könne.

Eine Woche später kommt alles anders. In der Hafenstadt Mariupol gibt es massive Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Zudem ruft eine Freundin Degtiarenko an und rät ihr zur Flucht. Auch vor ihrem Haus seien russische Panzer zu sehen, sagt sie.

Als auch vor Odessa Kriegsschiffe am Horizont zu erkennen sind, beschließt die gebürtige Ukrainerin, das Land zu verlassen. "Da habe ich verstanden, die Zeit ist gekommen, in der ich auch Verantwortung für meine Kinder übernehmen muss."

Marias Mann darf die Ukraine nicht verlassen

Um fünf Uhr morgens macht sich Degtiarenko mit ihrem 20-jährigen Sohn Artem und der neunjährigen Daria auf den Weg nach Moldawien. Ihr Ehemann Vitalii (50) bringt sie mit dem Auto zur Grenze, darf aber aufgrund des Ausreiseverbots für ukrainische Männer seit Kriegsbeginn das Land nicht verlassen. "Es war alles wie in einem schrecklichen Film", sagt die Ukrainerin. "Plötzlich waren viele Häuser einfach nicht mehr da, sondern nur noch Ruinen."

An der Grenze angekommen herrschen chaotische Zustände. In endlosen Autoschlangen warten Menschen in extremer Kälte, ohne jegliche Infrastruktur oder anderweitige Versorgungsmöglichkeiten.

In Odessa leitet Degtiarenko das Bayerische Haus, ein Kulturzentrum, das mit deutschen Unternehmen kooperiert. Das hilft ihr jetzt. Eine der Firmen hat Busse organisiert, um Mitarbeiterinnen und die Ehefrauen von Angestellten zu evakuieren. Degtiarenko und ihre Kinder dürfen mitfahren.

An der Grenze von Rumänien nach Ungarn müssen sie 18 Stunden warten. Nahrung und Hygieneartikel sind Mangelware. Doch die Bevölkerung hilft. Die Menschen auf ihrem Weg nach Deutschland hätten überall einen Schlafplatz für ukrainische Flüchtlinge angeboten und den Geflohenen auch Lebensmittel gebrachten, erzählt Degtiarenko. Schließlich kommt sie mit ihren Kindern und nur einem Koffer mit dem nötigsten in Prag an.

Am 9. März erreichen sie München

Von dort aus erreichen sie nach sechs Tagen Flucht per Direktverbindung am 9. März gegen Abend den Hauptbahnhof in München, wo sie von einer Familie aus dem Stifterkreis des Bayrischen Hauses mit viel Warmherzigkeit aufgenommen werden.

Maria Degtiarenko hat Germanistik studiert und ist beruflich mindestens vier Mal pro Jahr in Deutschland, die Landessprache beherrscht sie gut - anders als viele ihrer Schicksalsgenossinnen. "In den ersten Wochen ist es das Wichtigste, in Sicherheit zu sein. Aber dann, nach fünf bis sechs Monaten, stellt sich die Frage, was danach passiert." Die deutsche Sprache sei der Schlüssel zur Integration, sagt Degtiarenko. Deshalb gründen sie und einige andere ukrainische Lehrerinnen Anfang April eine deutsch-ukrainische Schule für Flüchtlinge. Innerhalb weniger Tage starten die ersten Online-Kurse. Seit Mai unterrichten sie in Präsenz, und zwar kostenlos.

"Wir haben schon 230 ukrainische Flüchtlinge in Deutschland ausgebildet", sagt die 47-Jährige stolz. Das Bayerische Haus in Odessa betreut sie von München aus weiter - über das Internet.

Marias Kinder sind integriert – die Familie hat eine Wohnung

Degtiarenkos Kinder haben sich trotz anfänglicher Sprachbarrieren gut integriert. Die Familie wohnt mittlerweile in einer eigenen Wohnung, Tochter Daria besucht mit Freude die Schule, Sohn Artem arbeitet als Werkstudent bei einem Münchner IT-Unternehmen.

Täglich telefoniert Degtiarenko mit Familie und Freunden in der Ukraine. Die Menschen hätten sich daran gewöhnt, seit fünf Monaten auf einer Matratze im Flur zu schlafen, um sich vor Luftangriffen zu schützen, erzählt sie. "Wenn kein Alarm kommt, dann ist das Leben trotz allem schön", sagt sie. Die Lokale seien wieder geöffnet, Schulen planten teils wieder mit Präsenzunterricht. Auch Veranstaltungen wie Jazz-Konzerte auf der Straße oder Theateraufführungen finden statt.

Marias Mann wurde noch nicht eingezogen

In der Werkstatt ihres Mannes Vitalii würden wieder Autos repariert. Er sei bislang nicht eingezogen worden und helfe bei sozialen Projekten. "Man versucht, das Leben trotz allem so zu führen, wie es vor dem Krieg war, zumindest in dem Rahmen, in dem es uns möglich ist."

Obwohl sie sich Deutschland sehr verbunden fühlen, wollen Maria Degtiarenko und ihre Kinder auf jeden Fall zurück nach Odessa. "Keiner kann leider prognostizieren, wie lange dieser wahnsinnige Krieg dauern wird", sagt sie. "Aber ich wünsche uns allen, dass wir Weihnachten in unserer befreiten und friedlichen Heimat feiern dürfen."

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