Ein Geflüchteter in München erzählt: Sein größtes Ziel ist noch fern

Vor fünf Jahren ist Malik Sadat aus Afghanistan geflohen. Heute arbeitet er im Pflegeheim. Er will eine richtige Ausbildung machen. Das scheitert an Bürokratie. Und seine größte Sehnsucht liegt kilometerweit entfernt in der Türkei.
von  Helena Ott
Malik Sadat in seinem spartanisch eingerichteten Zimmer. Seit drei Jahren zahlt er die Miete selbst, das macht ihn stolz.
Malik Sadat in seinem spartanisch eingerichteten Zimmer. Seit drei Jahren zahlt er die Miete selbst, das macht ihn stolz. © Daniel von Loeper

München - Malik Sadat hat sich ein Leben in München aufgebaut. Als Pflegehelfer kümmert er sich um alte Menschen in einem Pflegeheim. Fünf Jahre ist es jetzt her, dass der 37-Jährige vor den Taliban-Kämpfern aus Afghanistan geflohen ist. Aber die Angst vor einer Abschiebung ist nach wie vor präsent.

Alle sechs Monate bangt er, ob ihm die hiesige Ausländerbehörde wieder eine Aufenthaltsgenehmigung ausstellt. Bisher waren seine Aufenthaltstitel immer befristet: drei Monate, sechs Monate, sechs Monate und so weiter.

Zuversichtlicher Blick in die Zukunft

Er versuche, sich davon nicht die Zuversicht auf eine Zukunft hier nehmen zu lassen. Sadat ist ein ruhiger, freundlicher Mensch, spricht bedächtig. Fünf Tage in der Woche, regelmäßig an den Wochenenden, fährt er zu den Früh-, Tages- oder Nachtdiensten zu seiner Arbeit in ein Pflegeheim in Unterhaching. Mit der U- und S-Bahn ist er knapp eine Stunde unterwegs. Zweimal am Tag.

Aber der dunkelhaarige Mann mit drahtig-sportlicher Statur beklagt sich nicht. "Ich wollte unbedingt im engen Kontakt mit Menschen arbeiten." In Afghanistan war er Teppich-Verkäufer und hatte zuvor mehrere Semester Jura studiert. "Durch meine Flucht konnte ich mich nicht um meine eigenen Eltern kümmern, als sie pflegebedürftig wurden", sagt Sadat. Deshalb wolle er sich zumindest jetzt um seine Mitmenschen kümmern.

Malik Sadat ist einer von mehr als 1,1 Millionen Geflüchteten, die 2015 und 2016 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, auf der Suche nach einem sicheren Ort für sich und ihre Familien.

Sadat sitzt am viereckigen Schreibtisch in seinem zwölf Quadratmeter großen Zimmer, das von der Form an eine Schuhschachtel erinnert. Seit drei Jahren zahlt er die Miete in der Unterkunft für Geflüchtete im Westend selbst, sagt er, das ist ihm wichtig. Die Unterkunft, ein Neubau mit langen Fluren, hat mehrere Gemeinschaftsküchen und -bäder.

Wenig Freizeit - aber keine Klagen

Damit er für seine Kinder Geld in die Türkei schicken kann, hat er neben seinen 40 Stunden in der Woche im Pflegeheim einen Nebenjob als Kellner. Freizeit bleibt ihm wenig, trotzdem fallen im Gespräch mit dem 37-Jährigen kaum Worte wie: anstrengend, müde oder überfordert. Aber die drei Monate der Flucht haben ihn alt werden lassen, sagt Sadat.

Er gehört zu der usbekischen Minderheit in Afghanistan, die von Paschtunen, der Bevölkerungsmehrheit im Land, unterdrückt werde und teilweise von Taliban-Kämpfern verfolgt.

Malik Sadat auf der Wiesn.
Malik Sadat auf der Wiesn. © privat

Weil ihn die Taliban für einen amerikanischen Spion hielten und ihm drohten, ihn umzubringen, lief Sadat im Herbst 2015 los. Zu Fuß querte er gemeinsam mit anderen Geflüchteten Pakistan, den Iran und die Türkei. Von dort fuhr er in einem Schlauchboot mit 50 anderen Menschen auf eine griechische Insel und weiter mit Bus und Bahn nach Deutschland.

Fünf Ortswechsel - und ein neues Zuhause

Am 22. Januar 2016 schlief er die erste Nacht in der Bayernkaserne in München. Von da an wechselte er fünf Mal die Unterkunft, bis er die aktuelle in der Nähe vom Heimeranplatz bezog. 280 Menschen leben dort in fünf nebeneinanderliegenden Mehrfamilienhäusern. An jeder Zimmertüre ein feinsäuberlich bedrucktes Schild mit Vor- und Nachname des Bewohners.

In Sadats Zimmer ist Platz für ein Bett aus Metallgestänge, den Schreibtisch, einen Spind, wie man sie aus Fitnessstudios kennt und ein Holzregal. Außer einem großen Din-A3-Rahmen mit Fotos des Tages, an dem er sein Zeugnis zum "Pflege- und Betreuungsassistent" bekam, gibt es kaum persönliche Gegenstände im Zimmer.

Sadat hatte Glück. Er hat in den ersten Monaten in Deutschland eine Arbeitserlaubnis bekommen. Er begann als Zeitungsausträger. Und sieben Monate nach seiner Ankunft in Deutschland die Weiterbildung in der Pflege.

Kein Abschluss - keine Pflegerausbildung

Am liebsten hätte er gleich die drei Jahre duale Ausbildung zum Altenpfleger gemacht. Aber obwohl die Pflegebranche um Fachkräfte ringt, durfte er nicht. Zum einen wegen seiner befristeten Aufenthaltsgenehmigung, zum anderen, weil er für eine Ausbildung einen Schulabschluss vorweisen müsste.

Aber in Afghanistan hat Sadat keine Verwandten mehr, die ihm seine Unterlagen schicken könnten. Dutzende Male hat er mit dem afghanischen Schulministerium telefoniert und gemailt, dass sie ihm eine beglaubigte Kopie seines Abschlusszeugnisses schicken.

Aber die Behördenmitarbeiter weigern sich. "Ohne Geld machen die nichts, erst recht nicht für Usbeken oder Tadschiken", sagt Sadat. Nach seiner Weiterbildung arbeitete er eineinhalb Jahre bei einem ambulanten Pflegedienst. Anstatt mit weißen Kleinwagen, wie man sie häufig sieht, durch München zu fahren, fuhr er von Haustür zu Haustür mit dem Rad, weil er keinen Führerschein hat.

Seniorenarbeit mit "großem Spaß"

"Die alten Leute in ihren Häusern zu besuchen, hat großen Spaß gemacht", sagt der 37-Jährige. Aber nach zwei Wintern und immer wieder klitschnassen Anziehsachen, entschied er, sich im Pflegeheim zu bewerben. Nun arbeitet er auf einer Station mit 30 Senioren, davon auch einige bettlägerige Menschen.

Manchmal macht ihn die Arbeit nachdenklich: "Ich hatte eine Patientin, die hatte ganz wenig Besuch, auch als sie gestorben ist, war niemand bei ihr", sagt Sadat. In Afghanistan seien nur wenig alte Menschen im Heim. "Wenn du keine Kinder hast, verhungerst du schnell." Die jüngere Generation versorge die Älteren. Das gehe schon deshalb gar nicht anders, weil es in Afghanistan keine Krankenversicherung gibt.

Ein gemeinsamer Kochabend in der Culture Kitchen, hier bereiten Geflüchtete und Münchner gemeinsam Essen zu.
Ein gemeinsamer Kochabend in der Culture Kitchen, hier bereiten Geflüchtete und Münchner gemeinsam Essen zu. © privat

Die Bewohner lieben es, sich zu unterhalten, sagt Sadat. Der tägliche Kontakt mit den Patienten hat sein Deutsch schnell immer besser werden lassen. Außerdem ist er selbst nicht gern allein: "Wenn ich einen oder zwei Tage am Stück nicht arbeite, ist das nicht gut für mich." Gerade in der Hochphase der Corona-Krise sei es schlimm gewesen, neben der Arbeit keine Freunde treffen zu können.

Große Angst vor einer Abschiebung

Auch sein Fitnessstudio hatte mehr als drei Monate zu. Ohne Ablenkung ist im Kopf auch Platz für dunkle Gedanken: "Ich habe sehr große Angst, auf einmal abgeschoben zu werden", sagt Sadat. Obwohl er seit drei Jahren ein festes Einkommen hat, wurde seine Aufenthaltserlaubnis noch nicht entfristet.

Als Nächstes will Sadat neben der Arbeit einen Schulabschluss machen. Weil sich die afghanische Schulbehörde weigert, sein Zeugnis zuzustellen, ist das die Schleife, die er drehen muss, um eine Ausbildung in Deutschland beginnen zu können. Schulabschluss, Aufenthaltsgenehmigung, Ausbildung. In dieser Reihenfolge nennt er seine Zukunftswünsche.

Aber seine größte Sehnsucht fehlt: Er möchte endlich seine Familie wiedersehen. Eigentlich wollte er sie nach seiner Flucht nachholen.

Sehnsucht nach der Familie

Aber kurz bevor er ankam, wurde der Familiennachzug für Schutzbedürftige ohne Asylstatus ausgesetzt. Seine drei Söhne und zwei Töchter im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren leben jetzt mit ihrer Mutter in der Türkei, die Kinder können nicht zur Schule gehen.

Zwei- oder dreimal in der Woche sieht Sadat sie auf dem Bildschirm seines Smartphones und telefoniert mit ihnen. Es ist ein spärlicher Ersatz zum gemeinsamen Spielen, essen und umarmen. Es belastet ihn, dass er ihnen nicht sagen kann, wann sie sich wieder sehen. "Wenn ich sie jetzt besuchen würde, würde ich nicht mehr nach Deutschland zu meiner Arbeit zurückkommen."

Am 12. November entscheide die Ausländerbehörde erneut, ob er weiter in Deutschland bleiben darf.

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