Edeka-Chef in Trudering: Vom Flüchtling zum Geschäftsmann
München – Zu hunderten stehen die Münchner in diesen Tagen am Hauptbahnhof, um die Flüchtlinge willkommen zu heißen, die mit dem Zug aus Ungarn einfahren. Sie empfangen sie mit Obst, Wasser, Kuscheltieren und guten Worten, manchmal auch nur mit einem Lächeln.
Hajrudin Jusic weiß genau, wie wichtig Warmherzigkeit und solche Gesten für jemanden sind, den Gewalt und Vertreibung dazu zwingen, in einem völlig fremden Land neu anzufangen. Der 32-Jährige ist als Bub mit seiner Mutter vor dem Bosnien-Krieg nach München geflohen – und hat hier Karriere gemacht: Seit 1. September gehört ihm der Edeka-Markt an der Bajuwarenstraße.
„Aber all das habe ich nur erreichen können, weil mich viele deutsche Mitbürger unterstützt haben“, sagt er ernst. „Weil sie ein hasserfülltes Kind zu einem besseren Menschen gemacht haben.“
In der AZ erzählt der junge Geschäftsmann zum ersten Mal seine Geschichte.
Jusic wächst in Bosnien auf, in Krasan Polje, einem Dorf nahe der Stadt Srebrenica, direkt an der Grenze zu Serbien. „Ich hatte eine tolle Kindheit und ein wunderbares Zuhause“, sagt er. Der Vater arbeitet als Zimmerer in Belgrad, die Mutter hält eine Kuh, damit die Kinder täglich frische Milch bekommen.
Hajrudin ist neun Jahre alt, seine Schwester 14 und der große Bruder 16, als diese Idylle am 10. Mai 1992 in Flammen aufgeht. „Als wir aufgewacht sind, standen auf der anderen Seite des Grenzflusses schon ungewöhnlich viele Autos. Mittags hat das erste Haus im Dorf gebrannt.“ Serbische Milizen treiben die muslimische Bevölkerung in Busse. „Wir durften nichts mitnehmen und nicht zurück.“ Ein Nachbar, der umkehrt, um das Insulin seiner Tochter zu holen, wird erschossen. Auch aus dem Haus der Jusics steigen jetzt dicke Rauchschwaden.
Die Flucht
Die Fahrt ins Ungewisse, während der ständig Menschen aus dem Bus geholt werden und nicht wiederkehren, endet im Stadion von Bratunac. Dort heißt es: Frauen und Kinder werden auf von muslimischen Bosniern kontrolliertes Gebiet gebracht, Männer und Halbwüchsige müssen bleiben. Auch Hajrudins Bruder. „Ich bin doch noch ein Kind“, ruft er in Panik. Vergeblich. Als der Bus mit Hajrudin, Mutter und Schwester aus der Arena rollt, sieht er Vater und Bruder zum letzten Mal.
Erst Monate später wird die Familie in einer kroatischen Zeitung lesen, was mit ihnen passiert ist. Ein Augenzeuge berichtet, dass Vater und Sohn noch in derselben Nacht umgebracht wurden; vielleicht zur selben Zeit, als Hajrudin, Mutter und Schwester die bosnische Zone erreichen.
Ein altes Schulgebäude dort ist das erste von vielen Flüchtlingslagern, in denen die Familie von nun an leben wird. „Wir hatten zu dritt eine Doppelmatratze und bekamen jeden Tag eine Scheibe Brot, die so dünn war, dass du durchschauen konntest.“ Anfangs teilen die Bauern aus der Umgebung ihre Nahrungsmittel noch mit den Vertriebenen. „Aber später waren wir so viele Flüchtlinge – die konnten sie unmöglich alle durchfüttern.“ Die Menschen hungern.
Auch Kleidung ist Mangelware. „Irgendwann hatte ich keine Schuhe mehr, meine Mutter und ich mussten bei der Bevölkerung betteln.“ Sie wollen schon aufgeben, als der kleine Bub einem unbekannten Mann im Rollstuhl begegnet: „Er hat mir nagelneue Turnschuhe geschenkt. Das war so wunderschön, dass ich heute noch weiß, wie sie ausgesehen haben: Es waren blaue Sneakers mit weißen Streifen.“
Hajrudin Jusic hat diesen Mann nie vergessen. „2013 habe ich versucht, ihn zu finden – aber leider ist er entweder gestorben oder weggezogen. Niemand weiß, wo er ist. Das ist unendlich schade. Dieser Mann hätte sich etwas von mir wünschen dürfen.“
Über Kroatien – wo sie nicht bleiben kann, weil sich bald auch Bosnier und Kroaten bekriegen – gelangt die Familie schließlich nach Bayern. Ein Onkel, der schon lange in München lebt, hat sie hergelotst.
Deutschland - der Start ins neue Leben
Die ersten drei Monate verbringen die Geflüchteten in einer Sammelunterkunft in Deggendorf. „In den Zimmern standen Gitterbetten und Metallschränke. Den Rest der Einrichtung haben wir beim Sperrmüll zusammengesammelt. Das war okay. Aber der größte Luxus war, dass wir wussten, dass jetzt niemand mehr kommt, der uns etwas antun will.“
Weihnachten im Asylbewerberheim. Hinter Hajrudin Jusic (3.vr.) steht die Münchnerin Angelika Tappert, die der Familie sehr geholfen hat. Foto: privat
Ihr nächstes Zuhause ist ein Container an der Münchner Herterichstraße, dann muss die Familie in eine Einrichtung an der Maria-Probst-Straße umziehen, später in ein Heim an der Knorrstraße. Erst 1998 bekommen die Jusics eine eigene Wohnung.
Schon vorher schließt Hajrudins Mutter Freundschaft mit einer Münchner Taxifahrerin: Angelika Tappert (heute 71) sei eines Tages einfach in der Unterkunft aufgetaucht, die Frauen hätten miteinander geplaudert – so sei das gekommen, erzählt der Sohn mit leuchtenden Augen.
Eine Münchnerin gibt den entscheidenden Karriere-Anstoß
„Diese Frau ist einer der tollsten Menschen, die mir je unter die Augen gekommen sind. Sie hat uns geholfen, ohne etwas dafür zu erwarten. Sie hat für uns Kinder eine Schule gesucht und einen Job für meine Mutter. Sie hat uns eingeladen, wenn jemand aus ihrer Familie Geburtstag hatte. Sie hat mein Vertrauen in die Menschheit wiederhergestellt.“
Und sie gibt den entscheidenden Tipp, als der Teenager zu verzweifeln droht. „Ich habe nach dem Quali keinen Ausbildungsplatz gefunden, weil ich meine Aufenthaltsgenehmigung und meine Arbeitserlaubnis jeden Monat aufs Neue verlängern lassen musste. Das war den Arbeitgebern zu unsicher.“ Einmal ist der Vertrag schon unterschrieben, als der Chef doch noch einen Rückzieher macht.
„Eines Tages hat mir Frau Tappert erzählt, dass sich im Arbeitsamt Firmen vorstellen, die Azubis suchen. ,Geh’ hin und red’ mit denen’, hat sie gesagt.“ Und tatsächlich: Der Chef einer Münchner Tengelmann-Filiale gibt dem jungen Bosnier eine Chance. „Ich habe mich unfassbar Freude“, sagt er heute.
Der neue Azubi ist fleißig. Und ehrgeizig. Bereits drei Monate nach Ende der Ausbildung steigt er zum stellvertretenden Filialleiter auf. Da ist er gerade 20 Jahre alt – und hat endlich eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.
Es dauert nicht lange und er ist selbst Boss eines Supermarktes, erst eines kleineren, dann eines größeren. In der Tengelmann-Chefetage beschließt man, Hajrudin Jusic die Fortbildung zum Handelsfachwirt zu ermöglichen. Ein paar Jahre später wechselt der junge Mann zu Edeka und erfüllt sich wenig später einen Traum: Er kauft sich seine eigene Filiale.
Jusic spendet für die Flüchtlinge
Vor dem Weinregal steht dort ein Tischchen mit Tüten, in das der Chef und seine Mitarbeiter Dinge gepackt haben, die derzeit in den Flüchtlingsunterkünften dringend gebraucht werden: Shampoos, Duschgel, Zahnpasta und -bürsten, aber auch Windeln und Wundcreme. Für fünf oder zehn Euro können die Kunden sie kaufen, Hajrudin Jusic leitet sie dann an die Stadt weiter. Bereits nach vier Tagen hat er dem Sozialreferat 147 Stück vorbeigebracht.
Mitarbeiterin Senija Zahirovic-Malagic packt neue Spenden-Tüten für Flüchtlinge. 147 hat ihr Chef schon bei der Stadt abgegeben. Foto: privat
Es ist nicht das erste Mal, dass er Menschen hilft, die in Not geraten sind. 2014, nach dem verheerenden Hochwasser in Bosnien, hat er eine Wagenladung Süßigkeiten in seine alte Heimat gebracht. Für die Kinder.
Als Kollegen in Deutschland fragten, ob denn nichts Wichtigeres benötigt werde, hat er ihnen eine Geschichte erzählt: „Im Flüchtlingslager in Bosnien ist einmal ein Mann mit einer Packung Kekse zu uns Kindern gekommen. Er hat jedem einen Halben davon geschenkt. Es waren keine besonderen Kekse, eine Art Vanillekipferl, die es in Bosnien vor dem Krieg recht häufig gab. Aber sie zu essen war ein unbeschreibliches Gefühl. Für mich sind diese Kekse bis heute die Besten der Welt.“
- Themen:
- Dieter Reiter
- Flüchtlinge