Interview

Drogen-Historikerin Helena Barop erklärt: Das sind die großen Unterschiede zwischen Alkohol und Cannabis

Die Historikerin Helena Barop wünscht sich aufgrund ihrer Forschung eine offene Debatte über Drogen. Was sie über die Legalisierung von Cannabis und Münchens "weltweit größte offene Drogenszene" denkt.
von  Rosemarie Vielreicher
Das Buch "Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden" der Historikerin Helena Barop (*1986) steht auf der Shortlist fürs beste Wissenschaftsbuch 2023.
Das Buch "Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden" der Historikerin Helena Barop (*1986) steht auf der Shortlist fürs beste Wissenschaftsbuch 2023. © privat

München - Im Interview mit der AZ spricht die Historikerin Helena Barop darüber, was sie über die Legalisierung von Cannabis in Deutschland hält und bezieht sich dabei auch auf die Vergangenheit. Außerdem ist das Oktoberfest Thema.

AZ: Frau Barop, Sie sind Historikerin und haben sich auf das Thema Drogen spezialisiert. Warum?
HELENA BAROP: Mir war das Thema eigentlich immer relativ fremd. Während meines Masterstudiums habe ich mich aber viel mit Themen beschäftigt, die sich über Grenzen hinweg abspielen. So bin ich auf Drogen gestoßen: Es gibt internationale Gesetze dazu und der globale Markt macht an den Grenzen nicht halt. Bis dahin gab es dazu wenig gute historische Forschung, später habe ich dann auch meine Doktorarbeit darüber geschrieben.

Drogen-Debatte um das Oktoberfest: Alkohol ist ein Genussmittel

In München hat es zuletzt Aufregung über Aussagen des neuen zweiten Bürgermeisters Dominik Krause gegeben, der das Oktoberfest als "weltweit größte offene Drogenszene" betitelte. Der Konter kam sofort: Bier sei doch keine Droge. Zeigt das, dass der Begriff der Drogen unscharf ist?
Was hier diskutiert wird, legt erstmal eine Widersprüchlichkeit offen. Es kann nicht sein, dass 40.000 Menschen in Deutschland jedes Jahr an Alkohol sterben, es aber nicht möglich ist, an Cannabis zu sterben – jedenfalls wenn keine künstlichen Cannabinoide im Spiel sind. Schon seit einer Weile gibt es den Versuch, dieses schiefe Bild ein bisschen zu flicken, indem man sagt, Alkohol sei auch eine Droge, oder indem man von weichen und harten, legalen und illegalen Drogen spricht. Aber das macht die Verwirrung für mein Gefühl noch etwas größer.

Inwiefern?
Als Historikerin kann ich dazu sagen: Der Begriff Droge kommt ursprünglich von getrockneten Heilpflanzen. Historisch gesehen sind Drogen Medikamente gewesen. Ab dem 19. Jahrhundert hat man gemerkt, dass es dabei auch Missbrauchspotenzial gibt. Die Menschen haben herausgefunden: Diese Medikamente machen auch noch andere Dinge als nur gesund. In einem politischen Prozess wurde schließlich entschieden, welche Mittel nicht genutzt werden dürfen, weil sie keinen oder zu wenig medizinischen Nutzen haben. Alkohol und Nikotin fallen deswegen nicht in diesen Topf hinein, weil sie als Genussmittel gelten und niemand auf die Idee kommt, sie als Medikamente in die Apotheke zu stellen. Ich finde es aber auch nicht sinnvoll, sie jetzt auch in diesen Topf hineinzuwerfen.

Sondern?
In der Geschichte ist es bisher nie passiert, dass wir uns als Gesellschaft hingesetzt und gefragt haben: Welche Substanz hat welche Nebenwirkung? Welche Suchtpotenziale? Welche Heilmöglichkeiten? Dadurch könnte man systematisch sortieren: Wie können wir welche Mittel heilend einsetzen, welche Substanzen werden als Rauschmittel verwendet und wie kann man die Menschen schützen? Und: Welche Substanzen sind zu gefährlich, um sie überhaupt freizugeben? Eine ehrliche, evidenzbasierte Auseinandersetzung hat nie stattgefunden, weil es immer ein sehr moralisch verfärbter und mit sachfremden Argumenten angereicherter Diskurs gewesen ist.

Was bedeutet das fürs Bier?
Die Debatte um die Drogenszene und das Oktoberfest triggert natürlich alle Menschen wahnsinnig, die gerne Bier trinken. Plötzlich entsteht die Angst: Es könnte wie andere Drogen verboten werden. Da möchte ich sagen: Stopp, auf die Bremse! Eine Polarisierung bringt überhaupt nicht weiter. Aber es ist sinnvoll, die Töpfe, in die wir legale und illegale Drogen einsortiert haben, auszukippen und zu schauen: Was wissen wir über die Substanzen und wie können wir die Menschen besser schützen. Alkohol ist sehr gefährlich, und trotzdem ist es immer noch so, dass selbstverständlich mit Sekt angestoßen wird oder man natürlich im Bierzelt oder -garten Bier trinkt. Diese Schieflage aufzulösen, ist ein gutes Ziel. Mir wäre es aber wichtig, das zu tun, ohne neues Stigma zu produzieren.

Cannabis-Legalisierung: "Drogen sind unterschiedlich gefährlich"

Die Ampel-Koalition will Cannabis legalisieren. Wie ordnen Sie das als Historikerin ein?
Ich würde sagen: Der Schritt ist nicht groß, aber die Kehrtwende ist es. Der Richtungswechsel ist historisch gesehen interessant. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben wir in der westlichen Welt einen Konsens, wie wir mit Drogen umgehen: das Verbot. Seit den 90ern und Nullerjahren entsteht hier eine Unsicherheit. Erste Länder haben mit der Dekriminalisierung von Cannabis begonnen. Der Konsens bröckelt. Deutschland ist nicht das erste Land. Wir tun es, nachdem wir internationale Beispiele kennen wie Portugal oder die USA. Diese Gesellschaften sind nicht zusammengebrochen und es hat auch nicht dazu geführt, dass die Menschen nur noch in der Ecke liegen und kiffen. Es gibt sehr moderate Anstiege der Konsumzahlen in diesen Ländern. Im Prinzip ändert sich an den Konsumgruppen nichts, stattdessen hat man sich aber Geld in der Strafverfolgung gespart. Ich finde es unverhältnismäßig, dass wir an den Konzepten festhalten, obwohl wir wissen, dass sich Konsumenten von den Verboten nicht abhalten lassen. Stichwort: Schwarzmarkt.

Wie schafft man den Spagat, Cannabis zu legalisieren, aber Drogen nicht zu verharmlosen?
Indem man sagt: Drogen sind auch gefährlich. Aber sie sind sehr unterschiedlich gefährlich. Es gibt zum Beispiel solche, die vor allem für Menschen mit psychotischen Vorerkrankungen oder genetischen Vorbelastungen etwa für Schizophrenie gefährlich sind. Cannabis zum Beispiel verträgt sich mit diesem Krankheitsbild überhaupt nicht. Oder auch Psychedelika. Andere Menschen lindern mit Cannabis inneren Druck oder Ängste und profitieren davon. Wir müssen hier lernen, differenzierter darüber zu sprechen. Die Ängste bezüglich Drogen müssen aber auch ernst genommen werden.

US-Drogenpolitik mit moralischem Eifer: "Rausch galt als böse"

Die US-Drogenpolitik beleuchten Sie in Ihrem Buch besonders. Wo hatten die Drogengesetze dort ihren Ursprung?
Im späten 19. Jahrhundert herrschte viel moralischer Eifer in der Politik. Die Regierung verstand ihren Auftrag selbst so, das Individuum moralisch zu verbessern. Rausch galt als böse. Aus diesem Zusammenhang entstand eine sehr moralisch geprägte Bewertung von Abhängigkeit. Wer zu dieser Zeit von Alkohol abhängig war, galt nicht als krank, sondern hat sich dem Teufel nicht ordentlich widersetzt. Es gab zwar langsam erste medizinische Abhandlungen zu dem Thema, aber auch diese warfen den Betroffenen vor, gescheitert und schwach zu sein. Dazu mischt sich Rassismus.

"Der große Rausch" steht auf der Shortlist fürs beste Wissenschaftsbuch 2023.
"Der große Rausch" steht auf der Shortlist fürs beste Wissenschaftsbuch 2023. © Siedler Verlag

Können Sie das an einem Beispiel ausführen?
In den 1870er, 1880er Jahren wanderten in den USA Chinesen in großer Zahl ein. Diese bauten etwa die amerikanischen Eisenbahnen, arbeiteten in den Goldminen - sie machten offen gesagt die Drecksarbeit für wenig Geld. Sie hatten null Chance auf Integration, lebten in Chinatown. Dort rauchten sie ihre Opium-Pfeifen, wie wir heute unser Feierabendbier trinken. Daraus entstand der Opium-Mythos und die "gelbe Gefahr" - ich sage das mit großen Anführungszeichen.

Was passierte dann?
Die Chinesen wurden daraufhin ausgeschlossen, durften nicht mehr einwandern. Opium wurde als Erstes verboten. Dieses Muster wiederholt sich, bei den Afroamerikanern ist es später das Kokain. Mit diesem Drogen-Mythos wurde die rassistische Diskriminierung dieser Gruppe noch weiter vorangetrieben. Sie wurden mithilfe von Drogen kriminalisiert. Der Rassismus war bereits da, die Stigmatisierung von Drogen auch - die Verknüpfung verstärkte beides.

Die Fehler der Vergangenheit: Cannabis als Signal gegen den Konsenszwang

Was kann man aus diesen Fehlern für die Zukunft lernen?
Diese Untertöne sind immer noch drin. Wenn wir zum Beispiel von Drogendealern hören, denken wir an migrantische Milieus. Es ist immer noch die Erzählung, die Drogen kämen ausschließlich von außen. Die unschuldigen Deutschen würden dazu verführt. Das ist faktisch nicht korrekt. Es gibt in Deutschland in allen Milieus Drogenkonsum.

Werfen wir noch einen historischen Blick auf die Zeit, in deren Folge auch in Deutschland das erste richtige Drogengesetz kam: 1968.
In der 68er Generation war eines der Protest-Signale Cannabis. Als Gegenbild gegen die Enge und Härte und den Konsenszwang der 50er Jahre. Aber auch deswegen, weil sich damit so gut die Eltern ärgern ließen. Es war eine generationelle Auseinandersetzung. Der Backlash kam mit Nixon, in Deutschland mit dem Betäubungsmittelgesetz 1972. Freie Liebe und lange Haare waren nicht zu verbieten, Drogen eben schon. Davor gab es das Opiumgesetz nach dem Ersten Weltkrieg. Allerdings gab es zunächst keine Drogen-Debatte in Deutschland. Sie kam erst als Import aus den USA im Zuge der 68er auf.

Zukunftswunsch: "Eine offene Debatte darüber, was wirklich hilfreich ist"

Zurück in die Gegenwart: Erst in diesem Jahr ist ein 13-jähriges Mädchen in Mecklenburg-Vorpommern an der Ecstasy-Pille Blue Punisher gestorben.
Die Drogentoten, die es gibt, machen Angst. Und das ist mit Recht so. Das sollte man nicht unter den Teppich kehren. Man muss sich das ganz genau anschauen, dann aber nicht die Abkürzung nehmen: Die Droge war schuld. Das hilft den Betroffenen überhaupt nicht. Wir müssen uns fragen: Wie kommt eine 13-Jährige in diese Situation? Die Antwort ist nicht: Da war dieser Dealer. Sondern: Der Schwarzmarkt hat dieses Kind umgebracht. Wenn wir an die Ursachen wollen, müssen wir hinsehen: Was ist im Umfeld passiert? Gab es Gewalt? Missbrauch? Wo fehlte Hilfe? Sucht und Drogenunfälle sind immer Symptome von anderen Problemen. Aber oft schließen wir lieber die Augen vor diesen großen Themen und reden über Drogen.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Eine offene Debatte darüber, was wirklich hilfreich ist. Wie können wir die Betroffenen ins Zentrum der Gesetzgebung stellen und aufhören, Verbote immer weiterzutragen, von denen wir seit Jahrzehnten wissen, dass sie nicht funktionieren?


Helena Barop: "Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute"; Siedler; 26 Euro

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