Drei Münchner seit einem Jahr im Bundestag: Ein Zwischenfazit

Am 26. September 2021 wurde der aktuelle Bundestag gewählt. In ihm sitzen viele Abgeordnete zum ersten Mal. Die AZ hat mit zwei Münchnerinnen und einem Münchner gesprochen, die nun seit 365 Tagen Politik in Berlin machen und sie gefragt, wie es läuft.
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Sebastian Roloff ist über die Liste in den Bundestag eingezogen
Sebastian Roloff ist über die Liste in den Bundestag eingezogen © Fionn Große

München - Wie ist es, Bundestagsmitglied zu sein? Drei Politiker berichten, wie sie ihre Arbeit erleben.

Saskia Weishaupt: "Extrem schnell"

Saskia Weishaupt ist über die Liste eingezogen
Saskia Weishaupt ist über die Liste eingezogen © Keilhauer

Saskia Weishaupt (29), Grüne: "Das erste Jahr im Bundestag ging extrem schnell vorbei. Wahrscheinlich, weil es von so vielen Krisen geprägt war. Wir sind ja mitten in der Corona-Krise gestartet. Ich wollte gerne in den Gesundheitsausschuss und das hat geklappt. Natürlich war dort die Belastung von Anfang an groß. Dennoch haben wir es geschafft, in der Pandemie gute Lösungen zu finden. Corona ist bis heute sehr präsent. Der Gesundheitsausschuss gehört zu jenen, die am häufigsten tagen und noch immer hören wir regelmäßig Berichte zur Corona-Lage. Ich schaue deshalb mit großer Sorge auf das Oktoberfest. Die Gefahr, sich dort anzustecken, ist extrem hoch und ich hoffe, dass vor allem Menschen mit einem gesundheitlichen Risiko die Wiesn meiden. Ich werde heuer nicht hingehen.

"Richtig, dass die Maskenpflicht im ÖPNV bestehen bleibt"

Hätte die Wiesn abgesagt werden sollen? Das ist schwer zu sagen. Die Stadt, die für diese Frage zuständig ist, hat sicherlich stark abgewogen. Ich hätte mir aber gewünscht, dass die Stadt nicht nur an die Besucher denkt, die sich im Zelt anstecken, sondern auch an alle anderen Münchner, die dem Virus zum Beispiel in der vollen U-Bahn nicht aus dem Weg gehen können. Für uns ist es natürlich eine große Frage, wie sich Corona im Herbst entwickelt. Das Gesundheitsministerium wird sicherlich noch mal eine Kampagne starten, die dafür wirbt, sich boostern zu lassen. Ich finde es richtig, dass die Maskenpflicht im ÖPNV bestehen bleibt und dass die Länder die Möglichkeit haben, selbst flexibel auf steigende Inzidenzen zu reagieren.

Es ist eine große Herausforderung, neben den großen Krisen, die eigenen, daneben scheinbar kleinen Projekte nicht aus den Augen zu verlieren. Ich kümmere mich im Gesundheitsausschuss auch um Frauengesundheit. Der Tag, an dem der Paragraf 219a abgeschafft wurde, war deshalb für mich einer der schönsten im vergangenen Jahr. Der Paragraf schränkte Ärzte massiv ein, wenn sie über Abtreibungen informieren wollten. Nachdem er gestrichen wurde, kamen viele Frauen dankbar auf mich zu.

Einsatz für die Pille für den Mann

Außerdem kümmere ich mich darum, dass die Forschung rund um Endometriose mehr Geld bekommt. Das ist eine schmerzhafte gynäkologische Krankheit, an der zwar viele Frauen leiden, über die aber noch wenig bekannt ist. Auch dafür, dass mehr zu Verhütungsmitteln für Männer, zum Beispiel an einer Pille für den Mann, geforscht wird, setze ich mich ein.

In München bin ich eigentlich immer, wenn gerade keine Sitzungen in Berlin sind. Ich finde es wichtig, zu spüren, was die Menschen bewegt. Ich mache regelmäßig Veranstaltungen hier. Bald veranstalten wir zum Beispiel einen feministischen Filmabend."

Sebastian Roloff: "Lernen, Kompromisse zu machen"

Sebastian Roloff (39), SPD: "Dass ein Bundestagsmandat kein 40-Stunden-Job ist, war mir schon immer klar. Ich hätte trotzdem nicht damit gerechnet, dass es so herausfordernd wird. Es gab nach dem Wahlkampf keinen Tag Pause. Ich bin sofort nach Berlin gefahren, einen Tag später war schon die erste Fraktionssitzung. Viele Kollegen haben damals gesagt, sie würden nach dem anstrengenden Wahlkampf so gerne einfach mal wieder ausschlafen. Und mir ging's auch so. Aber dann ging es erst so richtig los. Hinter uns liegt ein Jahr voller Krisen an allen Ecken und Enden - Corona, Krieg, Inflation. Ich muss deshalb noch immer lernen, zu priorisieren, welche Termine ich wahrnehme. In Berlin lebe ich in einem günstigen Hotelzimmer, der Koffer ist immer gepackt. Denn wenn die Sitzungswoche vorbei ist, renne ich sofort zum Zug, um in meinem Wahlkreis Termine wahrzunehmen. München ist meine Heimat. In Berlin komme ich eigentlich zu nichts anderem, als zu arbeiten.

"Ich hätte gern das 9-Euro-Ticket verlängert"

In den Sitzungswochen beginnt der Tag manchmal schon um 7 Uhr morgens mit der ersten Besprechung und endet um 22 Uhr mit der letzten Sitzung. Da bin ich froh, wenn ich zwischendrin irgendwo eine Käsesemmel abgreifen kann. Das Spannendste als Abgeordneter ist die Themenvielfalt. Neulich ging es an einem Abend zuerst um Kiesgewinnung bei München, dann um die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen und dann habe ich mit Bürgern das Entlastungspaket diskutiert. Ich habe mich im vergangenen Jahr vor allem für die Luft- und Raumfahrtindustrie in Bayern eingesetzt. Denn rund um München etwa in Ottobrunn oder in Allach gibt es viele Unternehmen aus dieser Branche. Aber am meisten freue ich mich, wenn ich in Einzelfällen helfen kann. Erst vor kurzem habe ich dafür gesorgt, dass der fehlerhafte Rentenbescheid einer älteren Dame korrigiert wird. Wenn man einen Brief mit dem Bundesadler losschickt, können die Behörden ja gar nicht anders, als sich darum zu kümmern. An was ich mich in der Bundespolitik erst noch gewöhnen muss, ist, dass vieles so unfassbar lange dauert. Zwischen jeder Idee und der Umsetzung liegen zehn Sitzungen und drei Kompromisse. Das kann frustrierend sein. Zum Beispiel den Tankrabatt hätte es aus meiner Sicht nicht gebraucht. Dafür hätte ich gerne das 9-Euro-Ticket verlängert. Aber ich muss lernen, dass wir vor allem mit unseren liberalen Freunden viele Kompromisse machen müssen."

Jamila Schäfer: "Vieles ist anders gekommen als gedacht"

Jamila Schäfer hat überraschend als Direktkandidatin den Wahlkreis München-Süd geholt
Jamila Schäfer hat überraschend als Direktkandidatin den Wahlkreis München-Süd geholt © Kilian Vitt

Jamila Schäfer (29), Grüne: "Mein Fazit für das erste Jahr im Bundestag? Grundsätzlich hätte ich mir natürlich weniger Krisen gewünscht. Am Anfang dachten wir alle, es geht um Corona und die Klimakrise – das wäre schlimm genug gewesen. Vor allem seit dem 24. Februar, seit Russland die Ukraine angriff, habe ich das Gefühl, dass wir vor allem Brände löschen, auch durch die katastrophale Energiepolitik der letzten Bundesregierung – und dass vorausschauendes Handeln bei gesellschaftlichen Problemen dabei manchmal zu kurz kommt. Vieles in diesem Jahr ist ganz anders gekommen, als ich gedacht hätte. Zum Beispiel, dass ich als Grünen-Abgeordnete zustimmen würde, dass Deutschland Fracking-Gas importiert und dass wir die Kohlekraftwerke doch noch länger laufenlassen. Gleichzeitig bauen wir die erneuerbaren Energien viel mehr und viel schneller aus, als es am Beginn der Legislaturperiode absehbar war, und wir sind innerhalb weniger Monate weitgehend unabhängig geworden von fossilen Importen aus Russland.

Waffenlieferungen in die Ukraine notwendig

Und ich hätte auch nicht erwartet, dass ich zu den Abgeordneten gehören würde, die Waffenlieferungen in die Ukraine forcieren. Diesen Sommer habe ich die Ukraine besucht. Was ich dort erlebt habe, hat mich in meiner Meinung bestärkt, dass es auch für unsere Sicherheit essenziell ist, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Denn nur ein Erfolg der Ukraine wird Putin an den Verhandlungstisch bewegen. Ich habe in einem Vorort von Kiew gerochen, dass in den Straßen kurz vorher Leichen lagen. Ich habe Funksprüche von russischen Soldaten gehört, die sie absendeten, kurz bevor und während sie Kriegsverbrechen begingen. Sie prahlten über ihre Taten, sie entmenschlichten die Ukrainer und verwendeten Worte, die ich nicht wiederholen will. Ich habe Häuser gesehen, wo die Wände so zerbombt waren, dass ich direkt ins Wohnzimmer schauen konnte. Das Geschirr stand noch auf dem Tisch und es wirkte, als würde sich gleich jemand zum Abendbrot hinsetzen. Doch natürlich kam niemand. Ich habe mit Schülern gesprochen, die all ihre Klassenkameraden verloren haben. Es waren harte Erfahrungen, aber es ist gut, dass ich mir ein Bild vor Ort machen konnte. Ich kann die Situation in den besetzten Gebieten und in der Ukraine allgemein besser einschätzen.

"Es braucht ein weiteres Entlastungspaket"

Ich finde es wichtig, dass die Wähler verstehen, wie Erkenntnisse und Entscheidungen von Politikern zustande kommen. Deshalb habe ich im Sommer in meinem Wahlkreis im Münchner Süden Biergarten-Runden organisiert und da viele Bürger getroffen. Außerdem biete ich regelmäßig eine Telefonsprechstunde an. Am meisten bewegt die Menschen, wie sie ihre Strom- und Gasrechnung bezahlen sollen. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass wir den Strompreis dauerhaft senken müssen und dass es ein weiteres Entlastungspaket braucht. Auch für Unternehmenshilfen kämpfe ich. Ich glaube, dass die Hilfsgelder für Firmen, die wegen der hohen Energiekosten von einer Insolvenz bedroht sind, mindestens im zweistelligen Milliarden-Bereich liegen müssten, aber gerade bremst da das Finanzministerium noch. Trotz der Krisen will ich nicht zynisch werden. Ich versuche mich an diesem Spruch von Antonio Gramsci zu orientieren: Was wir brauchen, ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens. Gemeint ist: Auf das Schlimmste vorbereitet sein, aber die Hoffnung nicht verlieren."

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11 Kommentare
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  • Kadoffesalod am 26.09.2022 21:15 Uhr / Bewertung:

    Der "Münchner" ist in Berlin geboren, eine der "Münchnerinnen" in Hannover.

    Einen Mehrwert für das Land bringt keiner von den dreien.

  • katzundmaus am 26.09.2022 16:59 Uhr / Bewertung:

    Zwischenfazit: Rekordschulden, Rekordinflation, Rekordpreise, Rekordarmut, Rekordzuwanderung.

  • Der wahre tscharlie am 27.09.2022 14:09 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von katzundmaus

    .....und Rekordkommentare von dir hast vergessen grinsen

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