"Diffuse Machtverschiebung" in Bayerns Regierung: Verliert Söder jetzt an Einfluss?

München - Fünf Tage nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags von CSU und Freien Wählern hat der Bayerische Landtag am Dienstag Markus Söder (CSU) erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.
Markus Söder mit großer Mehrheit erneut zum Bayerischen Ministerpräsidenten gewählt
120 der 198 anwesenden Abgeordneten stimmten für Söder, der seit 1994 im Landtag sitzt und am 16. März 2018 erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. 76 stimmten gegen Söder, es gab zwei Enthaltungen. Dank der stabilen Mehrheit von CSU und Freien Wählern war die Neuwahl Söders eine reine Formalie. Die beiden Regierungsfraktionen verfügen gemeinsam über 122 der insgesamt 203 Abgeordneten.
Die Wahl war der einzige Tagesordnungspunkt bei der Sitzung, der CSU-Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek würdigte den 56-Jährigen bei seiner Vorschlagsrede. Söder lenke die Geschicke des Freistaats mit Klugheit, Fleiß und Souveränität, stehe für ein menschliches, modernes Bayern: "Er genießt das Vertrauen der Menschen in unserem Land."

Nach seiner Wiederwahl hatte Söder für Geschlossenheit und Fairness unter den Demokraten geworben. Je ernster die Zeiten und je schwerer die Herausforderungen seien, desto wichtiger sei es, dass Demokraten zusammenhalten, sagte der CSU-Chef am Dienstag in seiner ersten Rede. "Wir bewegen uns in ernsten Zeiten."
Es sei Aufgabe der Politik, den Menschen Halt und Hoffnung zu geben. Dabei müssten parteitaktische Überlegungen zurückstehen. "Wir sind in erster Linie für die Menschen da und nicht für uns." In Anspielung auf die Corona-Krise in der vergangenen Wahlperiode betonte er: "In schwersten Zeiten war der Zusammenhalt hier mit großen Teilen der Opposition am größten."
Am 8. November wird im Landtag das neue Kabinett vereidigt
Söder hatte 2018 in der geheimen Abstimmung 110 Ja-Stimmen und 89 Nein-Stimmen bei drei Enthaltungen erhalten und damit im ersten Wahlgang die notwendige einfache Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erzielt.
Am 8. November soll dann im Landtag das neue Kabinett vereidigt werden. Wer für die CSU ins Kabinett einzieht, wurde bisher nicht offiziell verkündet. Die Freien Wähler hatten bereits mitgeteilt, dass neben Parteichef Hubert Aiwanger (Wirtschaft), Thorsten Glauber (Umwelt) auch Anna Stolz (Kultus) und Fabian Mehring (Digitales) einen Ministerposten erhalten werden. Tobias Gotthard soll neuer Wirtschaftsstaatssekretär werden.
CSU und Freie Wähler im Landtag: Haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben?

Insgesamt 203 Abgeordnete gehören dem neuen Landtag an, zwei weniger als bisher. Weil die FDP den Wiedereinzug verpasst hat, sind künftig nur noch fünf Fraktionen vertreten. Von den 203 Abgeordneten sind nur 51 weiblich (25,1 Prozent) – zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode lag die Quote noch bei 26,8 Prozent.
Interessant wird es sein, zu beobachten, wie die CSU und ihr alter, neuer Koalitionspartner angesichts des ausnehmend guten Wahlergebnisses der Freien Wähler nun miteinander umgehen und ob sich die Kräfteverhältnisse womöglich verschoben haben. Auch wenn die CSU weiter stärkste Partei ist, so hat sie doch im Vergleich zur Landtagswahl 2018 leicht verloren.
Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl: "Hubert Aiwanger kann auf seine Unterstützer zählen"
Für Prof. Dr. Jasmin Riedl vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München in Neubiberg steht fest, dass sich die CSU unter diesen Bedingungen nur bedingt als Sieger fühlen kann.
"Meine Vermutung ist, dass man bei der CSU am 8. Oktober um 18 Uhr bei der Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten Hochrechnungen tief durchgeatmet hat. Da gab es zumindest in den Köpfen sicher erleichterte Seufzer, weil es nicht noch schlimmer gekommen ist", sagt die Politikwissenschaftlerin im Gespräch mit der AZ.

Das starke Abschneiden der Freien Wähler überrascht sie nicht – trotz oder womöglich gerade wegen der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger. Das Wahlergebnis habe sich bereits im Mai in sehr guten Umfragewerten angedeutet, und der Trend habe sich kurz vor den Wahlen dann verstärkt: "Hubert Aiwanger kann auf seine eingeschworenen Unterstützer zählen, die sich für die Freien Wähler gerade wegen der Person Aiwanger entscheiden. Weil er eben so ist, wie er ist."
Im Skandal um ein antisemitisches Flugblatt, das zu Schulzeiten in seinem Ranzen gefunden worden war, sah Aiwanger selbst letztlich einen Vorteil im Wahlkampf. "Viele Leute bis in CSU-Kreise hinein, sogar bisherige SPD-Wähler sagen mir: 'Jetzt wähle ich dich, weil das nicht in Ordnung ist, was die mit dir machen'", sagte Aiwanger im September im AZ-Interview und sprach von einer "Kampagne" gegen ihn.
Jasmin Riedl: Partner gehen ohne Gesichtsverlust aus den Koalitionsverhandlungen
Aiwanger schaffe es mit seinem sehr pragmatischen Politik-Ansatz als Markenkern immer wieder, seine Wählerschaft hinter sich zu versammeln, findet Riedl. Andererseits habe sich die CSU mit ihrer Ankündigung, dass sie wieder eine Koalition mit den Freien Wählern anstrebe und eine Partnerschaft mit den Grünen nicht in Frage käme, "kommunikationsstrategisch einen Nachteil" eingehandelt.
Im Landtagswahlkampf 2018 habe sich die CSU stark auf die Themen Asyl und Migration konzentriert, um die AfD zu schwächen, dann seien die Grünen mit einem "phänomenalen Ergebnis" durchgestartet.
"Von Söder waren eine ganze Weile keine kategorischen Hasstiraden in Richtung der Grünen zu hören, bei Umwelt-Themen wie 'Rettet die Bienen' gab es sogar eine Annäherung", sagte Riedl. Weil sich an der CSU-Basis, in weiten Teilen der CSU-Wählerschaft viele große Sorgen machten, Söder könne am Ende womöglich doch die Grünen ins Boot holen, habe der Ministerpräsident gegensteuern müssen: "Denn wer Grün verhindern will, der stärkt in diesem Fall unbedingt die Freien Wähler." Es sei eine große Stärke von Söder, Stimmungen aufzufangen und entsprechend zu reagieren.
Jasmin Riedl: "Aiwanger wurde in den Bierzelten zeitweise wie ein Popstar gefeiert"
Durch das Wahlergebnis haben die Freien Wähler nicht nur im Landtag, sondern vor allem auch in der Regierung an Stimmen gewonnen, und das tut eben nicht nur der Partei gut. Hubert Aiwanger bleibt weiter Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kann auch damit leben, dass das derzeit von Michaela Kaniber verantwortete Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten den Bereich Gastronomie/Tourismus bekommt, weil der Landwirt so im Gegenzug den Bereich Jagd erhält.
Insgesamt sei es beiden Partnern gelungen, ohne Gesichtsverlust aus den Verhandlungen herauszugehen. "Aber es ist eine Art diffuse Machtverschiebung festzustellen. Aiwanger wurde in den Bierzelten zeitweise wie ein Popstar gefeiert, die Kerngruppe seiner Anhänger steht enthusiastisch hinter ihm. Seine Unterstützer treten resoluter auf", beobachtete Riedl. Klar ist aber auch, dass die Wähler keine Veränderung wollten, allenfalls hier und da eine Anpassung.
Spannend in diesem Zusammenhang: Wann und in welchem Umfang lässt Söder seinem Vize auch in Zukunft immer mal wieder freie Hand, wann zieht er kategorisch die Zügel an, um seine Macht zu demonstrieren?
"Das Thema Entbürokratisierung steht weiter auf der Tagesordnung"
Söder, der Parteipolitiker mit staatsmännischem Auftreten, habe Aiwanger, dem sich gegen alles Staatsmännische verwehrenden Mann aus dem Volk, mitunter klein beigeben müssen: "Ich denke da nur an die groteske Pressekonferenz zur Flugblatt-Affäre, als Aiwanger knapp die Hälfte der 24 Fragen mit 'nicht erinnerlich' beantwortete."
In der Regierungsarbeit werde sich in den nächsten fünf Jahren nicht viel ändern, glaubt Politikwissenschaftlerin Riedl: "Das Thema Entbürokratisierung steht weiter auf der Tagesordnung – da ist man nicht wirklich weitergekommen –, und programmatisch sind CSU und Freie Wähler ohnehin sehr nah beieinander."
Jasmin Riedl: AfD-Wähler sind keine Protestwähler
Neu in der Präambel des Koalitionsvertrags ist die folgende Passage: "Dennoch ist die Zeit eine andere als vor fünf Jahren: Internationale Kriege, wirtschaftliche Krisen, Klimawandel und wachsender Extremismus fordern uns heraus. Es ist unser Auftrag, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen – vor Feinden von außen und von innen. Wir treten jeglicher Form von Antisemitismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entschlossen entgegen. Im Bewusstsein unserer Geschichte und aus innerster Überzeugung bekennen wir uns zu unserer historischen Verantwortung und den Prinzipien unserer Demokratie."
Jasmin Riedl findet es wichtig, dass man sich in der aktuellen politischen Lage im Kampf gegen die überraschend starke AfD positioniert "und endlich begreift, dass da keine Protestwähler unterwegs sind, das war naiv".
Insgesamt werde man nun versuchen müssen, der Polarisierung entgegenzuwirken und den ländlichen Raum zu stärken, zum Beispiel bei den Themen Vereinsstrukturen und Wohnen. "Menschen, die AfD wählen, sind Leute, die sich oft abseits der Städte abgehängt fühlen und glauben, dass die da oben keine Politik für sie, sondern nur für sich selbst machen. Aber es sind Menschen, die wissen, was sie wählen."
Verteilung der Ministerposten: "Markus Söder will niemandem auf die Füße treten"
Die Freien Wähler liebäugeln inzwischen mit einem bundesweiten Auftritt, und Aiwanger spricht offen von einer möglichen politischen Arbeit in Berlin. Aktuellen Umfragen zufolge würde die aus kommunalen Wählervereinigungen entstandene Partei bei Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wäre aber in den Augen von Riedl durchaus eine Gefahr für die Union, die durch die CSU ja auch eine regionale, bayerische Kraft habe.
Riedl dazu: "Man schaut da sicher so ein bisschen in die Glaskugel, und Wahlkampf ist immer enorm von Ereignissen geprägt. Aber durch die Flugblatt-Affäre ist Hubert Aiwanger bundesweit um einiges bekannter geworden."
Dass die CSU ihre Minister bis dato noch nicht genannt hat, überrascht die Politikwissenschaftlerin weniger: "Es ist nicht ungewöhnlich, dass es ein bisschen länger dauert, da gibt es in Sachen Proporz so einiges zu bedenken. Söder will da niemandem auf die Füße treten, und so ist das eben noch nicht eingetütet."