Dietmar Holzapfel über den Sommer seines Lebens: "Ich ein Spinner, er ein Macher"
Als mich die AZ bat, mir zum "Sommer meines Lebens" Gedanken zu machen, musste ich erst überlegen. Sicher, es gab viele: Meine erste große Reise nach dem Abitur nach Bali? Ein besonders harter und langer Sommer am Sterbebett meines Vaters? Der einsame Coronasommer 2020?
Der erste Sommer mit der großen Liebe
Nein, ich entschied mich, den Sommer 1978 zu wählen, den Sommer, als sich mein Leben bis heute änderte, den ersten Sommer mit meiner großen Liebe Sepp, die bis heute und hoffentlich noch lange anhält.
Ich war mit 19 zum Pädagogik-Studium nach München gekommen und genoss endlich das Leben. Anders als daheim im biederen Ingolstadt hatte München ein quirliges Nachtleben und auch eine Schwulenszene mit einer Sauna in der Türkenstraße. Ich hatte Nachholbedarf und war kein Kind von Traurigkeit.
Kennenlernen bei einer Kinderferienzeit
Zwei Jahre später, 1978, hatte ich im Südtiroler Altrei mit fünf Assistentinnen eine Kinderferienzeit mit 45 bedürftigen Kindern zu leiten. Ein Projekt der Evangelischen Diakonie, für die ich schon jahrelang in den Ferien arbeitete, um mein Studium zu finanzieren.
Am 15. August schneite dort überraschend ein Bekannter aus München vorbei, der Medizinstudent Jörg, der ein Bubigesicht hatte, begleitet von zwei Freunden: Peter aus Wien und Sepp, ein Münchner Meisterschüler im Elektromaschinenbau.
Zum ersten Mal war da mehr als nur sexuelle Anziehung
Am nächsten Tag fuhren wir zu viert mit Sepps Wagen durch Südtirol, er hatte damals einen silbernen 5-er BMW mit schauderhaft goldenen Felgen. An einem ruhigen Berghang legten wir uns ins Gras. Sepp sah in seiner Badehose hinreißend aus. Seine weiche Stimme gepaart mit seiner selbstsicheren Art faszinierten mich.
Zum ersten Mal im Leben merkte ich, dass da mehr war als nur sexuelle Anziehung. Wir tauschten die Adressen aus. Dann mussten die drei nach München zurück. Und ich musste noch drei Wochen arbeiten bis zum Wiedersehen.
"Ich ein Spinner, er ein Macher"
In München suchte ich Sepp im Feinkostladen seiner Eltern in der Ohlmüllerstraße auf. Er stand da in schneeweißem Kittel und kurzer Hose und verkaufte Obst. Zum Glück konnte er sich freinehmen und wir wanderten an der Isar entlang bis nach Großhesselohe. Die Sonne schien, die Isar glitzerte.
Wir spürten, dass diese Begegnung etwas Besonderes war: ich ein Spinner, er ein Macher. Ich war verliebt!
Beide hatten schon Freundinnen gehabt
Wir redeten viel, über die Kindheit, die Eltern, Männer und Frauen. Wir hatten beide Freundinnen gehabt, aber so intensive Gefühle wie die, die jetzt auf einmal zwischen uns beiden waren, waren uns neu. Wir waren beide sicher, nicht bisexuell, sondern homosexuell zu sein.
Sepp wohnte damals in einem Apartment im zweiten Stock seines Elternhauses in der Lohstraße 11 ½, direkt unter der Giesinger Heilig-Kreuz-Kirche. Sein Vater war streng katholisch, in seiner Wohnung konnten wir nicht lange bleiben. Und noch etwas funkte (fast) in unsere Beziehung hinein: Bubigesicht Jörg, der mich ebenfalls umschwärmte.
"Strauß hatte gesagt: Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder"
Im Oktober 1978 musste ich zu einem Politikseminar nach Berlin. Er müsse "zufällig" auch dorthin, sagte Jörg, ich könne gern in seinem Auto mitfahren. "Mit diesem Auto?", fragte ich entsetzt. Jörg hatte ein schwarzes VW-Käfer-Cabrio, über und über vollgeklebt mit dem Konterfei von Franz Josef Strauß, der gerade zum Ministerpräsidenten gewählt worden war und sich Aussichten auf die Kanzlerschaft 1980 machte.
"Wie kann ein Schwuler Werbung für den machen? In das Auto steig ich nicht ein", sagte ich. Strauß hatte schließlich gesagt: Lieber ein kalter Krieger, als ein warmer Bruder! Am nächsten Tag waren alle Aufkleber weg. Aber trotz aller Baggerei - mein Herz gehörte Sepp.
Ein unmögliches Keller-Bad
Ich selber wohnte damals in einer Mansarde in der Hirschgartenallee 8, mit Dusche im Keller, aber mit riesiger Dachterrasse. Im Sommer war die Wohnung perfekt, im Winter aber mit Keller-Bad unmöglich, weil eiskalt. Wenig später zog ich in eine 70 Quadratmeter große Wohnung am Karl-Preis-Platz 1 in Ramersdorf. Ich weiß noch, dass die Miete nur 270 D-Mark betrug.
Es waren hohe Räume, geeignet für ein Hochbett überm Schrank, sogar eine Schaukel bauten Sepp und ich dort ein. Im Gang entstand ein Mini-Not-Bad, denn das fehlte auch hier. Unsere Beziehung wurde zunehmend auch eine Baubeziehung - bis heute.
Von wegen Tunten und Memmen
Als Nächstes bauten wir das Dachgeschoss bei Sepp in der Lohstraße aus. Sein Vater hatte seine Bedenken der "Todsünde" endlich aufgegeben. Doch bald schon zog es uns aufs Land, wo wir in Taufkirchen eine Jagdhütte ausbauten - von wegen Tunten sind Memmen: Es war harte Arbeit.
"Man spürte die Blicke im Nacken, aber wir waren glücklich"
Neben Studium und Bauen machten wir auch kurze Reisen. Es war damals ein Abenteuer, in Heidelberg Hand in Hand mit Sepp durch die Stadt zu gehen. Man spürte die Blicke im Nacken, aber der Mut zur Offenheit machte uns glücklich.
Wir reisten nach Venedig, Capri, immer nur kurz. In München war damals die Disco "Jeans" in der Herrnstraße 30 der Schwulentreff schlechthin (zuvor hieß es "Why not?"). Da tanzten wir gern - aber wer um 5 Uhr in die Großmarkthalle oder um 9 Uhr im Uni-Hörsaal wach sitzen muss, der muss seine Kräfte einteilen. Also gingen wir oft lieber am Nachmittag ins "Pils 2000" in der Dultstraße auf ein Käffchen.
Ein "schwieriges Kind", das zusammenschweißte
Wer hätte das damals gedacht, dass wir heute in der Herrnstraße Wohnungen und ein neues Lokal bauen? Mit dem Hotel Deutsche Eiche in der Reichenbachstraße erwuchs uns 1993 ein "schwieriges Kind", aber das schweißte uns noch enger zusammen.
Vor zwei Jahren haben wir unseren Geschäftsführer Roger adoptiert, so dass wir allmählich noch mehr unsere gemeinsame Zeit genießen können, die vor 43 Jahren im Sommer unseres Lebens begann.