Interview

Dieter Reiters Jahresrückblick: "Verbote fallen mir nicht leicht"

Im großen AZ-Interview blickt OB Dieter Reiter zurück auf sein 2020, schwere Entscheidungen, Blitz-Beschlüsse – und den holprigen Start mit dem neuen Rathaus-Bündnis.
von  Felix Müller, Christina Hertel
Wurde im März 2020 als Münchens OB wiedergewählt: Dieter Reiter.
Wurde im März 2020 als Münchens OB wiedergewählt: Dieter Reiter. © imago images / Sammy Minkoff

AZ: Herr Reiter, Markus Söder war 2020 zehn Mal am Tag ausgiebig im Fernsehen, Sie mit Verweis auf die viele Arbeit monatelang öffentlich fast gar nicht zu sehen. Erklären Sie uns den Unterschied zwischen einem Ministerpräsidenten und einem Münchner OB?
DIETER REITER: Sitzungen, Absprachen, Entscheidungen: Sowohl Markus Söder als auch ich haben mit dem Thema Corona sehr viel zu tun. Der Unterschied ist, dass der Ministerpräsident viel mehr öffentlich darüber gesprochen hat. Die meisten Verordnungen waren ja auch Verordnungen des Freistaats Bayern. Dass ich weniger oft öffentlich aufgetreten bin, war meine persönliche Entscheidung.

OB Reiter gerade während Corona im Austausch mit Markus Söder

Warum haben Sie so entschieden, Ihre Rolle öffentlich so zurückhaltend zu interpretieren in dieser Krise?
Ich hatte vor praktisch allen wichtigen Maßnahmen Gelegenheit mit dem Ministerpräsidenten zu sprechen und dabei die Sicht Münchens auf das Infektionsgeschehen einzubringen. Das fanden wir beide sinnvoll und notwendig. Mir ist vor allem wichtig, dass die Münchner Bürgerinnen und Bürger zeitnah erfahren, was auf sie zukommt, soweit das in Anbetracht der vielen Regelungsänderungen des Freistaates möglich ist. Beispielsweise auf unserer städtischen Webseite oder ganz persönlich an unserem Bürgertelefon. In einer Krise alles noch mal öffentlich zu wiederholen, nur damit man in den Medien vorkommt, das ist dagegen aus meiner Sicht nicht so wichtig - insbesondere, wenn es nicht notwendig ist, zu widersprechen.

2020 bringt München auch dieses seltene Foto: OB Dieter Reiter (62, SPD) postet es am 9. Dezember auf Facebook aus seinem Wohnzimmer daheim (links im Bild ist seine Gitarre zu sehen), als er in Quarantäne muss – seine Mutter hat sich mit Corona infiziert.
2020 bringt München auch dieses seltene Foto: OB Dieter Reiter (62, SPD) postet es am 9. Dezember auf Facebook aus seinem Wohnzimmer daheim (links im Bild ist seine Gitarre zu sehen), als er in Quarantäne muss – seine Mutter hat sich mit Corona infiziert. © privat

Ist es jetzt an der Zeit, häufiger zu widersprechen?
Nein. Ich leide wie gesagt weder an mangelnder Bekanntheit noch an Profilneurose und werde mich weiter nur melden, wenn es wirklich nötig ist.

Einmal haben Sie doch deutlich widersprochen: Sie waren gegen die Maskenpflicht für Grundschüler.
Ja, da war ich absolut anderer Meinung.

Maskenpflicht für Grundschüler hält Reiter für nicht angebracht

Warum war Ihnen gerade dieses Thema so wichtig?
Mir haben viele Eltern geschrieben und darum gebeten, das zu überdenken, und gleichzeitig haben meine Gesundheitsexperten versichert, dass das Infektionsgeschehen an Grundschulen sehr gering sei. Von 46.000 Grundschülern hatten wir zu der Zeit nur 13 positiv getestete - deshalb habe ich entschieden, dass Grundschüler keine Maske tragen müssen. Die Infektionszahlen habe ich mir jeden Tag berichten lassen, um gegebenenfalls bei mehr infizierten Kindern sofort reagieren zu können. Zwei Mal hat der Freistaat unsere Ausnahme genehmigt - dann plötzlich nicht mehr, obwohl sich die Sachlage nicht verändert hatte. Das fand ich seltsam, ja ärgerlich, aber ich muss es so akzeptieren.

Spielplätze gesperrt, Grillen im Hof verboten, ständige Polizeikontrollen an der Isar: Hatten Sie heuer das Gefühl, dass die Staatsregierung verstanden hat, was ihre Maßnahmen für die Menschen bedeuten in einer Stadt, in der die allermeisten in kleinen Mietwohnungen leben?
Ich weiß, dass es anstrengend ist, wenn die Kinder nicht auf den Spielplatz dürfen, und man muss mir auch nicht erklären, dass es infektiologisch wohl kein Problem ist, wenn drei Menschen mit zehn Metern Abstand auf einer Wiese im Englischen Garten sitzen. Aber natürlich ist es als Außenstehender immer leicht, die Regeln in kleinen Details zu kritisieren. Ich bitte aber dabei, nicht vorschnell zu urteilen. Ich gebe die Frage gern zurück: Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie für die Gesundheit aller Münchner Verantwortung tragen würden? Würden Sie einfach nichts tun, weil dann auch niemand Kritik üben kann? Ich glaube nicht. Es ist eben schwierig, beim Thema Corona für alle verständliche Regeln zu finden, da sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen Maßnahme und Wirkung oft nicht so leicht erschließt.

Wiesn-Absage fiel Reiter trotz Notwendigkeit schwer

Im Rückblick: Was würden Sie heute anders machen?
Nicht viel. Das komplette Schließen der Altenheime würde ich nicht noch mal unterstützen. Das hat den alten Menschen wohl mehr geschadet als genützt. Aber auch hier entscheidet letztlich ja der Freistaat.

Wenn wir über Einsame im Heim reden, darüber, Menschenleben zu retten: Kommt einem da im Rückblick die Entscheidung, die Wiesn abzusagen, reichlich klein vor?
Nein. Das war schon eine wichtige Entscheidung. Die Wiesn abzusagen hat viel mit dem Lebensgefühl dieser Stadt zu tun, und ich wollte nie der erste Oberbürgermeister seit 70 Jahren sein, der das tun muss. Es war eine schwere Entscheidung, nicht nur, weil ich deshalb dieses Jahr nicht anzapfen durfte. Sondern vor allem, weil ich erlebe, wie toll sich München in dieser Zeit seinen Gästen präsentiert und wie sehr die Münchner und Bayern dieses Fest lieben. Und die fehlenden Umsätze für die örtliche Wirtschaft und Gastronomie tun in diesen Zeiten natürlich allen besonders weh.

"So stelle ich mir Politik vor: dass man auch mal was ausprobiert"

Schanigärten, Sommerstraßen, Pop-up-Radwege: Warum war die Politik plötzlich in der Lage, ganz schnell zu beschließen?
Das habe ich mich auch gefragt. So stelle ich mir eigentlich Politik vor: dass man auch mal was ausprobiert, Radwege mal abmarkiert und schaut, wie sie funktionieren. Bei den Schanigärten auf Parkplätzen ist ja sogar die CSU mitgegangen, wenn auch vielleicht die Hilfe für die Wirte hier eher ausschlaggebend war - und bei den Grünen und meiner Fraktion auch die Sympathie dafür, oberirdische Parkplätze nur noch zu haben, wo es wirklich sein muss. Das Kreisverwaltungsreferat hat sich auf meine Bitte großzügig gezeigt und nicht mehr jeden Zentimeter abgemessen, das fand ich wirklich gut.

Was wird bleiben von den neuen Ideen dieses Jahres?
Ich glaube, das bleibt wohl alles. Bei den Schanigärten rechne ich gar nicht mit Widerspruch, die Radwege werden wir richtig bauen, damit sie noch sicherer werden. Und auch die autofreien Sommerstraßen werden wir dort, wo sie funktioniert haben, wiedersehen.

Grün-Rot: "Auf Bürgermeister-Ebene funktioniert die Zusammenarbeit gut"

Nach mehr als einem halben Jahr Grün-Rot: Ist das Ihr Herzensbündnis?
(lacht) Was soll ich sagen?

Also ist es das nicht?
So will ich das nicht sagen. Wir hatten wegen Corona einen schwierigen Start, konnten uns nicht mal abends auf ein Bier zusammensetzen, Dinge besprechen, uns besser kennenlernen. Das wird noch etwas dauern. Ich bin daher sicher noch nicht zu 100 Prozent zufrieden. Es gab immer mal wieder ein paar überflüssige Scharmützel, aber das legt sich sicher noch. Auf der Bürgermeister-Ebene funktioniert die Zusammenarbeit gut.

"Die allermeisten Grünen fahren doch selbst auch Auto"

Wo müssen Sie inhaltlich noch zusammenfinden?
Inhaltlich sehe ich kaum Probleme, wir sind nirgends wirklich weit auseinander. Es prescht eher mal die eine und mal die andere Seite vor in der Frage, wessen Idee das denn nun war. Das sollte auch weniger werden, denn wir müssen gemeinsam noch große Aufgaben bewältigen und dabei mit viel weniger Geld auskommen.

Sie haben einst gesagt, Sie wollten der "OB der kleinen Leute" sein, müssen Sie da gegenüber den Grünen den Mahner geben im Sinne von "Mag ja sein, dass euch das nicht gefällt, aber die allermeisten normalen Münchner haben nun mal einfach noch ein Auto"?
Ach, die allermeisten Grünen fahren doch auch Auto (lacht). Das Thema muss man differenziert sehen: Klimaschutz und Ökologie sind ja die vergangenen Jahre viel mehr in den Fokus gerückt. Dass Markus Söder einmal Bäume umarmt, hätte man sich früher ja auch nicht vorstellen können. Ich will unsere Schwerpunkte - Soziales, Bildung, Sicherheit und Wirtschaft - nicht gegen die der Grünen ausspielen, wir sind auch dafür, den Klimaschutz noch ernster zu nehmen. Aber klar: Ich bin nicht so sehr für Ideologie zu haben. Ich bin und bleibe ein pragmatisch denkender Politiker.

Dieter Reiters schwerste Entscheidung 2020

Was war die schwerste Entscheidung dieses Jahr?
All die Verbote wegen Corona sind mir nicht leicht gefallen. Große und kleine Veranstaltungen abzusagen, Theater zu schließen, Sport einzuschränken oder Beschränkungen für den öffentlichen Raum auszusprechen, aber auch für die Schulen zu entscheiden, ob Präsenzunterricht oder nicht, das fällt nicht leicht.

Was sind für Sie persönlich schöne Erinnerungen, an dieses deprimierende Jahr 2020?
Ich bin wieder Opa geworden, eine Enkeltochter, das war ein freudiges Ereignis. Und: Ich habe mich sehr über mein doch bemerkenswert gutes Ergebnis in der Stichwahl gefreut. Aktuell freue ich mich, dass meine Familie gesund ist und meine Mutter wieder gesund wird. Dann wird es aber schon dünn mit den positiven Ereignissen.

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