Dieter Reiter im AZ-Interview: "Ich bin kein Märchenonkel"

AZ: Herr Reiter, in zwei Wochen beginnt das Frühlingsfest auf der Theresienwiese. Werden Sie hingehen?
DIETER REITER: Nein, ich werde nicht hingehen. Mich erreichen jeden Tag Bilder und Videos von meinem Amtskollegen Vitali Klitschko aus der Ukraine. Und deshalb habe ich gerade keine Lust aufs Feiern. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Werden Sie aufs Oktoberfest gehen, wenn es stattfindet?
Wenn es ein Oktoberfest gibt, dann gehört es zu meinem Amt, am ersten Tag anzuzapfen. Das ist Teil meines Jobs.
Fänden Sie es falsch, wenn die Wiesn 2022 stattfindet?
Falsch oder richtig sind nicht die Begriffe, die ich wählen würde. Es gibt vieles abzuwägen, vor allem auch, was die Pandemie betrifft, aber ich will der Entscheidung Ende April, Anfang Mai nicht vorgreifen.
"In München sind derzeit noch 11.500 Geflüchtete untergebracht"
Tausende Menschen sind aus der Ukraine nach München geflüchtet. Derzeit konzentriert sich ihre Unterbringung auf die Messehallen in Riem ...
Das stimmt so nicht. Seit Kriegsbeginn sind etwa 27.000 Menschen bei uns in München angekommen. Viele der gerade zu Kriegsbeginn überwiegend zu uns geflüchteten Mütter mit ihren Kindern sind zwischenzeitlich offenbar von Freunden, Bekannten und Verwandten aufgenommen worden. Derzeit sind daher von der Gesamtzahl der angekommenen Menschen insgesamt noch etwa 11.500 Menschen bei uns untergebracht. Davon leben rund 7.600 Menschen in privaten Wohnungen. Die Messe war ursprünglich als Kurzzeitunterbringung gedacht. Das hat nun faktisch eine andere Entwicklung genommen. Aktuell befinden sich dort zirka 2.500 Menschen, die im Durchschnitt länger bleiben.

Nun sind dort vor allem Roma.
Es sind vor allem Menschen, die einen ukrainischen Pass haben und vor dem Krieg fliehen. Das Problem ist nicht die Volkszugehörigkeit, sondern, dass es nur sehr beschränkte Möglichkeiten gibt, Familienverbände von zehn, 15, 20 Menschen in andere Unterkünfte zu bringen.
Welche Lösung schlagen Sie vor?
Das Thema können wir erst lösen, wenn wir andere adäquate Unterbringungsmöglichkeiten haben. Da sind wir mit Hochdruck dabei. Spätestens im Sommer werden die Hallen auch wieder für den Messebetrieb gebraucht und bis dahin werden wir Lösungen haben.
"Ich kann nicht versprechen, dass wir zeitnah geeignete Unterkünfte für alle finden"
Wo sollen die Flüchtlinge aus der Ukraine denn mittel- oder langfristig wohnen?
Das ist eine Frage, die mich wirklich nachhaltig beschäftigt. Selbst von den Geflüchteten, die wir 2015 aufgenommen haben, haben mehrere Tausend noch keine adäquate Wohnung gefunden. Viele leben heute noch in Gemeinschaftsunterkünften. Und jetzt kommen noch mal 10.000 Menschen dazu? Ich kann nicht
ernsthaft versprechen, dass wir in drei Monaten für alle vernünftige Unterkünfte gefunden haben. Ich bin nämlich weder ein Märchenonkel, noch kann ich zaubern.
Was wollen Sie dann tun?
Ich habe verhindert, dass wir damals die Leichtbauhallen verkauft haben. Die bauen wir nun wieder auf. Die ersten zwei stehen schon, Standorte haben wir auch. Aber leider ist es schwierig, Firmen zu finden, die sie zeitnah aufbauen. Auch die Messegesellschaft hat für uns Hallen angemietet, die wir länger nutzen können. Und wir sind ständig dabei, unvermietete Gebäude, etwa ehemalige Hotels oder Studentenunterkünfte, zu akquirieren.
Wo kommen die Hallen hin?
Das werden wir erst vor Ort und mit den Bezirksausschüssen kommunizieren. Viele der Geflüchteten wollen arbeiten, müssen aber wochenlang auf eine Arbeitserlaubnis warten.
"Mitarbeiter anderer Referate unterstützen das KVR"
Machen Sie Druck aufs KVR?
Das Thema wird in jedem Krisenstab besprochen. Im Vergleich zu 2015 läuft es sowieso deutlich besser. Allein durch die gesetzliche Regelung, dass die Geflüchteten schon von Beginn an arbeiten dürfen. Und
wir werden das Personal im Kreisverwaltungsreferat durch Mitarbeiter anderer Referate unterstützen.
Bekommen Münchner, die Flüchtlinge beherbergen, eine finanzielle Unterstützung?
Münchnerinnen und Münchner, die privat Geflüchtete aufgenommen haben, können schon jetzt, wenn sie einen Mietvertrag mit den Geflüchteten abschließen, die Kosten der Unterkunft von der Stadt erstattet bekommen. Weitere Zuschussmöglichkeiten sehe ich derzeit nicht.
Wie viel zahlt die Stadt denn für die Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ukraine in Hotels, Messehallen und anderen Unterkünften?
Das sind nennenswerte Beträge, auf jeden Fall hohe zweistellige Millionenbeträge, allerdings erstattet uns der Freistaat Bayern erfreulicherweise einen großen Teil davon wieder.
Ist schon Geld vom Land oder Bund zurückgekommen?
Ja, aber das geht natürlich nicht alles von heute auf morgen.
"Wir können nicht gleichzeitig auf alle fossilen Energieträger verzichten"
Die EU hat ein Embargo auf russische Kohle auf den Weg gebracht. Die Hälfte der Kohle, die im Heizkraftwerk Nord verfeuert wird, kommt aus Russland. Machen Sie sich Sorgen?
Es scheint möglich zu sein, Kohle aus anderen Ländern zu bekommen, zum Beispiel aus Südafrika. Wir reden von Wochen oder Monaten, in denen wir das umsetzen wollen. Deutlich schwieriger ist es, auf Öl und Gas aus Russland zu verzichten. Wir können nicht gleichzeitig auf alle fossilen Energieträger verzichten, ohne die Energieversorgung der Münchner zu gefährden und zu riskieren, dass die Münchner in kalten Wohnungen sitzen müssen. Wenn uns dieser irrsinnige, schreckliche Krieg irgendeine Gewissheit bietet, dann, dass wir das Thema Energiewende nicht in Jahrzehnten denken können. Es muss viel schneller etwas passieren.
Kann Atomstrom einen Beitrag leisten? Sollte Isar 2 länger laufen?
Der Stadtrat hat in der letzten Ausschusssitzung jedenfalls beschlossen, sich bei der Bundesregierung nicht für eine Verlängerung der Laufzeit einzusetzen.
Und was denken Sie darüber?
Ich hatte schon in der Schule einen Aufkleber, auf dem „Atomkraft? Nein, danke“ stand. Dazu stehe ich auch heute noch. Allerdings müssen wir die Energiewende ernsthaft wollen. Schauen Sie mal auf die Münchner Dächer. Wo sehen Sie da Photovoltaik? Es gibt auch nicht auf allen städtischen Gebäuden Solarplatten.
Das meine ich durchaus selbstkritisch. Die, die im Stadtrat jeden Tag über die Energiewende reden, sind vor Ort die Ersten, die sagen: Das geht gar nicht, da wird der Denkmalschutz gefährdet oder das Stadtbild verschandelt. Und auch wenn die Stadtwerke Standorte für Geothermie suchen, erlebe ich ständig Widerstand. Wenn wir die Energiewende wollen, dann müssen wir gewohnte Standards aufgeben. Wir müssen auch unbequeme Entscheidungen treffen.
"Unser Haushalt ist auf Kante genäht"
Apropos Entscheidung: Sie haben kürzlich entschieden, dass der Tunnel unter dem Englischen Garten nicht weiterverfolgt werden soll. Die Lokalpolitiker vor Ort kämpfen trotzdem weiter. Haben die noch eine Chance?
Wenn sie das Geld zusammenbringen, gern. Zumindest für die Planung gibt es ja eine hohe finanzielle
Förderung. Ich bin für ehrliche Politik. Natürlich hätten wir noch drei, vier Jahre vor uns hin planen können. Aber dann hätte jemand in der nächsten Legislaturperiode sagen müssen, dass wir uns den Tunnel nicht leisten können. Wir reden hier von 200 Millionen Euro. Die Gelder für die Planung zahlt übrigens auch der Steuerzahler.
Also geht’s gar nicht um die genannten 900 Bäume, die wegen des Tunnelbaus gefällt
werden müssten?
Doch, natürlich waren die alten Bäume, die man nicht so einfach aufforsten kann, für mich ein wichtiger Grund. Der Tunnel war eine charmante Idee und wenn wir eine Geldquelle hätten, die für immer sprudelt,
die auch Nachpflanzungen von großen Bäumen finanziert, hätte man es sich vielleicht überlegen können. Aber unser Haushalt ist auf Kante genäht und wir haben noch andere Projekte, zum Beispiel den weiteren Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
Und auch noch weitere Tunnelpläne. Ist der Tunnel durchs Hasenbergl, der die Autobahn anbindet, realistischer?
Ich halte ihn verkehrlich für notwendig.
"BWM ist ein extrem wichtiger Arbeitgeber für München"
Von diesem Tunnel profitiert vor allem BMW. Soll das Unternehmen mitzahlen?
BMW zahlt ja indirekt mit. BMW könnte die Steuerbescheide der letzten zehn Jahre zusammenzählen und sagen: Den Tunnel haben wir schon längst bezahlt. Aber es ist kein BMW-Tunnel. Wir suchen seit 15 Jahren nach Verkehrslösungen für die Menschen im Münchner Norden. Wir müssen uns jetzt endlich entscheiden und dann beginnen, diesen Tunnel zu bauen. Denn er hat viele positive Effekte. Ich habe verstanden, dass man ihn nicht unter der FFH-Fläche baut, also einem Landschaftsschutzgebiet. Das Baureferat hat deshalb andere Vorschläge gemacht und ich will, dass die noch in diesem Halbjahr zur Abstimmung kommen.
Machen Sie sich Sorgen, dass sich BMW aus München verabschiedet, wenn der Tunnel nicht kommt?
Was würden Sie als Unternehmerin tun, wenn an Ihrem Standort die Rahmenbedingungen teuer sind und Sie gleichzeitig das Gefühl haben, dass die Stadt Sie nicht unterstützt? In ganz Bayern würden Landräte und Bürgermeisterinnen Rosenblätter streuen, wenn sich BMW dort ansiedeln würde. Aber Teile der Münchner Politik tun manchmal so, als wäre BMW nicht wichtig. Dabei ist BMW ein extrem wichtiger Arbeitgeber Münchens, zig Tausende Jobs hängen dran. Deswegen wird es auch interessant, wie unser Koalitionspartner damit umgeht. Denn einerseits sagen die Grünen, Wirtschaft ist uns auch wichtig. Andererseits wollen sie keinen Tunnel, bloß weil er unter der Erde verläuft und darin Autos und Lkw fahren. Wirtschaftskompetenz hat aber immer etwas mit Kompromissen für alle Seiten zu tun.
In Freising gehen Beschlüsse schneller. Dort hat der Stadtrat nun eine Eventarena am Flughafen beschlossen. Ihr Wirtschaftsreferent meint, jetzt müsse auch München Gas geben, um eine Halle im Olympiapark zu realisieren.
Wir reden von Investitionen in Millionenhöhe, da mache ich sicher kein Wettrennen, ob wir schneller bauen können als Freising, mit. Und der Olympiapark ist kein einfacher Standort. Es müsste sicher einen Architekturwettbewerb geben. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten zwölf Monaten so weit wären wie Freising heute.
"Eine neue Halle würde nur mit einem Investor funktionieren"
Also wird es in München keine neue Halle geben?
Das entscheidet der Stadtrat. Ich wage allerdings zu bezweifeln, dass es im Wirtschaftsraum München so viele Veranstaltungen gibt, die zwei Hallen füllen. Außerdem haben wir ja auch noch die Olympiahalle,
die 10.000 Besucher fasst. Es würde ohnehin nur funktionieren, wenn wir einen Investor finden. Denn ich bin klar dagegen, eine weitere Eventhalle für München aus Steuergeldern zu finanzieren